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Junge Indianerinnen in farbigen Stammeskleidern in einem Park.
Legende: Indigene Mädchen an einer Zusammenkunft in Vancouver: Nicht immer stehen sie auf der Sonnenseite des Lebens. Imago

International Ein dunkles Kapitel in Kanadas jüngerer Geschichte

In Kanada rückt ein weiteres grosses Verbrechen an den Ureinwohnerinnen in den Fokus der Öffentlichkeit: Seit 1982 sind hunderte indigene Frauen und Mädchen ermordet worden oder verschwunden. Die neue kanadische Regierung geht davon aus, dass es sogar um bis zu 4000 Frauen geht.

Vor einem Jahr stellte die kanadische Bundespolizei in einem Bericht fest, in den vergangenen 30 Jahren seien 1049 indigene Frauen und Mädchen ermordet worden, weitere 172 würden noch vermisst. Gleichzeitig gab die Polizei zu, dass in diesen Fällen oft schlampig oder gar nicht ermittelt wurde.

Schon vor seiner Wahl hatte der neue Premierminister Justin Trudeau versprochen, die Tragödie vollständig aufzuklären Nun läuft diese Untersuchung an, und schon geht die Regierung von viel höheren Opferzahlen aus. Nicht 1200 Frauen und Mädchen seien ermordet worden oder verschwunden, sondern gegen 4000. Thomas Accola, Spezialist für indigene Völker bei Radio SRF, erklärt die Hintergründe.

SRF News: Wie ist man auf die neuen Zahlen der ermordeten und verschwundenen Ureinwohnerinnen gekommen?

Thomas Accola: Premierminister Justin Trudeau hat drei Ministerinnen – Carolyn Bennet, zuständig für indigene Fragen, Jody Wilson-Raybould, Justizministerin, sowie Patty Hajdu, zuständig für Frauenfragen – mit der Untersuchung beauftragt. Die drei Ministerinnen wollen das dunkle Kapitel gründlich angehen. In Hearings im ganzen Land versuchten sie herauszufinden, wie die Untersuchung durchgeführt werden soll. Sie haben auch mit vielen Angehörigen gesprochen, die ihre Frau, Tochter oder Schwester verloren haben. Dabei erfuhren sie, dass viele Fälle von der Polizei nicht untersucht wurden oder von den Familien der Polizei gar nicht gemeldet worden sind. So kamen sie zu der Annahme, dass es viel mehr solche Fälle geben muss. Eine genaue Zahl kennt man allerdings nicht.

Eine Untersuchung gibt den Opfern ein Gesicht – die Indianer werden sich ernst genommen fühlen.

Wie kann es sein, dass viele Todesfälle von Mädchen und Frauen gar nicht bekannt wurden?

Oftmals hat die Polizei nicht sehr engagiert ermittelt. Sie hat indigene Opfer offensichtlich als zweitklassig behandelt, es handelte sich um eine Form von Rassismus. Ausserdem gibt es kulturelle Gräben zwischen den meist weissen Beamten und der indigenen Bevölkerung. Die Beamten kommen deshalb bei den Ermittlungen nicht an die Informationen heran. Auf der anderen Seite misstraut die indigene Bevölkerung der Polizei, fühlt sich nicht ernst genommen. Häufig wendet sie sich entweder gar nicht oder nicht schnell genug an die Behörden, wenn jemand vermisst wird.

Wo Opfer sind, sind auch Täter. Wer hat die Frauen denn umgebracht?

Man muss wohl von zwei Täterprofilen ausgehen. Sehr viele Ureinwohner sind in die grossen Städte gezogen, weil es in den Reservaten keine Arbeit gibt. In den Städten landen sie zuunterst auf der sozialen Leiter. Viele Mädchen gleiten in die Prostitution ab. Nun gibt es offensichtlich Leute, die diese Mädchen als Freiwild anschauen, sie misshandeln und auch töten. Ein sehr bekannter Fall war derjenige des Schweinefarmers Robert Pickton, der im Raum Vancouver über 20 Frauen umgebracht haben soll. Eine zweite Tätergruppe stammt wohl aus der indigenen Gemeinschaft selbst. In Reservaten herrscht grosse Armut, es gibt keine Jobs. Drogen- und Alkoholmissbrauch führen zu häuslicher Gewalt – und in diesen Fällen ist die Hemmschwelle besonders hoch, eine Gewalttat unverzüglich der Polizei zu melden.

Was kann diese neue Untersuchung in Kanada bringen?

Was warum passiert ist und wieso die Polizei in diesen Fällen oft schlecht arbeitet – dazu wird wohl nicht viel Neues an den Tag gefördert werden. Trotzdem kann die Untersuchung etwas bringen, wenn sie richtig gemacht wird: Sie gibt den Opfern und ihren Angehörigen ein Gesicht, die Ureinwohner werden sich dann ernst genommen fühlen. Das kann mithelfen, ein Vertrauensverhältnis zwischen den Behörden und den indianischen Gemeinden aufzubauen. Das Vertrauen wiederum ist Voraussetzung dafür, dass man eine Grundursache für diese Gewalt angehen kann – Armut und Perspektivlosigkeit in den Reservaten.

Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.

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