SRF News Online: Mit Blick auf ein Jahr Papst Franziskus: In wie weit ist es im Vatikan zu einer Zäsur gekommen? Das Papsttum zeigt sich plötzlich menschlicher – ist das wirklich so?
Norbert Bischofberger: «Papst Franziskus erlebe ich als zutiefst menschlichen Papst. Seine eindrücklichste Aktion fand ich den Besuch auf der Insel Lampedusa. Offenbar hatte er in der Zeitung vom Leid der Flüchtlinge gelesen, die dort landen. Der Papst war zutiefst betroffen und rief eigenhändig ein Reisebüro an, um die Flüge nach Lampedusa zu buchen. Toll, einfach toll.»
Markus Ries: «Ja, selbstverständlich. Es ist auf allen Rängen das informelle, aber wunderschöne und bitter notwendige Motto zu spüren: ‹Der Karneval ist vorbei!›»
Antonia Moser: «Sicherlich hat Papst Franziskus einen anderen Stil als sein Vorgänger. Er sucht den Kontakt zu den Menschen, auch denjenigen am Rande der Gesellschaft. Er wirkt dabei zugänglich und freundlich. Gleichzeitig kritisiert er leidenschaftlich Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Welt. Er selbst lebt Bescheidenheit vor und verzichtet auf päpstlichen Prunk. In der Kurie in Rom hat er erste Reformen eingeleitet, um die Verwaltung kollegialer und transparenter zu gestalten. In Sachen römisch-katholischer Lehre hat er aber noch keine wegweisenden Veränderungen vorgenommen.»
Niklaus Kuster: «Der Vorgänger von Papst Franziskus, Benedikt XVI., ist nicht unmenschlich, sondern schüchtern menschlich. Doch mit Franziskus zeigt sich der Bischof von Rom menschennaher – ein Papst zum Anfassen und auf Augenhöhe, der in Rom tut, was er schon in argentinischen Slums tat: Arme in die Arme schliessen, mit berührenden Zeichen aufrütteln und durch sein Beispiel bewegen – auch die Mächtigsten der Welt.»
SRF News Online: Werden die sanften Revolutionen von Papst Franziskus weitergehen, oder wird er von den konservativen Kräften zurechtgestutzt?
Norbert Bischofberger: «Progressive Katholikinnen und Katholiken, welche das Frauenpriestertum und die Abschaffung des Pflichtzölibats bereits morgen erwarten, sollten Ihre Erwartungen schleunigst zügeln. Papst Franziskus vertritt eine im Kern konservative, eine bewahrende Theologie. Als gut ausgebildeter Theologe und Jesuit weiss er aber auch, dass die katholische Glaubenslehre von der Kirche in die jeweilige Zeit hinein neu verkündet werden muss. Mit Spannung erwarte ich die Familiensynode im Oktober 2014. Der Papst liess weltweit Fragebogen verschicken; die ersten Resultate bestätigen einen eklatanten Bruch zwischen katholischer Lehre und dem Alltag der Gläubigen, insbesondere in Sachen Moral.»
Markus Ries: «Der Papst ist nicht der erste und längst nicht der einzige, welcher für frischen Wind in der Kirche steht: Tausende von Frauen und Männer sind ihm seit Jahren schon beherzt vorangegangen. Dadurch, dass sich der Papst einen neuen Stil zu eigen macht, werden jetzt auch Leute fern und ausserhalb der Kirche darauf aufmerksam. Darin liegt das Neue. Deshalb wird es selbstverständlich über die Amtszeit dieses Papstes hinaus weitergehen; denn die Energie hoffnungsvoller und solidarischer Menschen ist genauso wenig aufzuhalten wie der Heilige Geist selbst.»
Antonia Moser: «Bis jetzt hat man noch von keinen grösseren internen Konflikten gehört. Denn in Sachen Theologie vertritt auch Papst Franziskus einen konservativen Kurs. Konfliktpotential bietet sicherlich die Kurienreform oder die Umfrage zu Familienthemen. Papst Franziskus hatte zu dieser Umfrage aufgerufen, im Herbst werden die Resultate an einer Bischofssynode im Vatikan besprochen.»
Niklaus Kuster: «Papst Franziskus ist Jesuit – und Mitglieder der Gesellschaft Jesu lassen sich selten zurechtstutzen. Der Testfall des Limburger Bischofs wird zeigen, wie viel Macht dessen konservative Freunde in Rom haben. Kehrt Tebartz van Elst nicht zurück, zeigt sich, dass nicht einmal ein Kardinal Müller, Erzbischof Gänswein und Benedikt XVI. seine Karriere zu retten vermögen.»
SRF News Online: Wird dieser Papst die katholische Kirche verändern?
Norbert Bischofberger: «Die Kirche, das sind die Katholikinnen und Katholiken weltweit, Vertreter der Hierarchie mit eingeschlossen. Sein Papst-Amt im Dienst der Gläubigen hat Papst Franziskus bereits verändert, mit viel Herzlichkeit und Bescheidenheit. Bald wird Papst Johannes XXIII. heilig gesprochen. Er hat den Begriff ‹Aggiornamento› verwendet: der Glaube soll ‹am heutigen Tag› ankommen. Mal sehen, ob das ‹Aggiornamento› ein Revival erlebt. Wir werden sehen.»
Markus Ries: «Er und die anderen Angehörigen einer beherzten, begeisterten neuen Generation ernsthaft gläubiger Menschen, die seit dem Konzil am Werk ist, werden gemeinsam die Kirche verändern. Kirche verstanden als Symbol für die Präsenz Gottes in der Welt, für und mit den Menschen, welche suchen und welche die Hand und das Herz ausgestreckt halten.»
Antonia Moser: «Er kann die Kirche nur nachhaltig verändern, wenn er Strukturreformen durchsetzen kann. Gelingt ihm dies nicht, wird der Kurs der römisch-katholischen Kirche von seinem Nachfolger bestimmt werden.»
Niklaus Kuster: «Freunde kirchlicher Macht und barocker Pracht beklagen die ‹Entzauberung des Amtes›. Ohne das Kirchenrecht geändert zu haben, verändern sich Stil und Praxis des Amtes, werden Bischöfe und Ortskirchen ernster genommen, Ökumene geschwisterlich, der Dialog mit der Welt ermutigend, kirchliche Ethik auch politisch wirksamer. Indem Franziskus das Evangelium über alle Ordnungen und die Praxis Jesu über tradierte Normen stellt, geht er im Ansatz wie die Reformatoren vor. Ich wünsche ihm ein paar Jahre auf diesem Weg.»