SRF News: Warum kennt der sogenannte «Islamische Staat» (IS) keine Identifikationsfigur wie die Terrororganisation Al Kaida mit Osama Bin Laden?
Fredy Gsteiger, SRF-Auslandredaktor: Auch der IS hat eine Identifikationsfigur: den Chef der Terrororganisation, Abu Bakr al-Baghdadi. Allerdings ist er viel weniger sichtbar, tritt kaum öffentlich auf und hält selten Reden. Das hängt einerseits damit zusammen, dass öffentliche Auftritte immer ein Risiko bedeuten und Baghdadi primär überleben will. Andererseits ist der IS anders strukturiert als Al Kaida.
Worin bestehen diese strukturellen Unterschiede?
Der IS ist viel grösser als Al Kaida. Er kontrolliert ein beachtliches Territorium im Irak und in Syrien. Die Führung ist breit abgestützt. Baghdadi ist eine wichtige Figur. Es gibt aber andere wichtige Personen, beispielsweise aus dem früheren Umfeld des irakischen Diktators Saddam Hussein. Generäle und Bürokraten spielen eine wichtige Rolle im IS. Al Kaida hingegen wurde im Wesentlichen durch die Symbolfigur Bin Laden zusammengehalten.
Die Symbolik beim IS besteht aus der schwarzen Flagge, aus inszenierten Morden, aus Bildern von Männern in Jeeps, die Kalaschnikows schwenken, oder aus Musik.
Terrororganisationen wurden in der Vergangenheit oft durch eine Symbolfigur repräsentiert. Brauchen heutige Terrororganisationen denn kein Gesicht mehr?
Symbolik ist für all diese Organisationen wichtig. Sie muss aber nicht unbedingt durch eine einzelne Person verkörpert werden. Die Symbolik beim IS besteht beispielsweise aus der schwarzen Flagge, aus den inszenierten Morden, aus Bildern von Männern in Jeeps, die Kalaschnikows schwenken, oder aus Musik. Die Anführer hingegen sind weniger sichtbar. Das ist auch bei anderen Terrororganisationen wie Boko Haram in Nigeria oder Al-Schabaab in Somalia so.
Bin Laden trat in etwas körnigen Videos auf, um zum Kampf gegen die USA aufzurufen. Der IS akquiriert seine Anhänger via Soziale Medien. War Bin Laden gewissermassen ein Vorbild für den Auftritt heutiger Terrororganisationen?
In gewisser Weise war er das. Denn Al Kaida merkte, dass sie mit im Internet verbreiteten Bildern weltweit eine grosse Wirkung erzielen kann, und das hat der IS übernommen. Bei Bin Laden handelte es sich aber immer um das gleiche Bild und die gleiche Botschaft, die er in einem etwas wackeligen und dilettantisch angefertigten Video verbreitete.
Die Wirkung dieser Botschaften nahm mit der Zeit ab.
Ja, und der IS geht in seiner Propaganda nun weit darüber hinaus: Sein Auftritt im Internet ist aktiver und professioneller. Beim IS gibt es Experten für Bildsprache und Online-Auftritte. Viele Videos dieser Terrororganisation erinnern vom Stil her an Hollywood-Filme. Offenbar sind die jungen Menschen, die der IS rekrutieren will, punkto Bildsprache im Internet anspruchsvoller geworden.