In Chicago dominiert ein Thema die Radionachrichten: Waffengewalt, Mord und Totschlag. Die drittgrösste Stadt der USA ist blutig ins Jahr gestartet. Bis Ende März gab es schon mehr als 100 Morde. Dabei gab es schon im letzten Jahr einen Rekord von 2900 Schiessereien und 468 Todesopfern. Die meisten davon in den Quartieren westlich und südlich der Innenstadt. Im Süden Chicagos wohnen vor allem Afroamerikaner. Dort stehen viele Häuser leer, Türen und Fenster sind verbarrikadiert. Leute lungern herum. Sie haben keine Arbeit, dafür Alkohol und Drogen.
Die Leute sind verzweifelt und tun, um zu überleben, bedauerlicherweise oft illegale Dinge.
Alderman Roderick Sawyer vertritt den Südteil von Chicago im Stadtparlament. Sein Büro im Quartier befindet sich in einer weissen Baracke und ist nur notdürftig eingerichtet. Für ihn hat die grosse Zahl der Morde vor allem ein Grund: «Mangelnde Chancen. Es gibt hier keine Ausbildung, keine Arbeitsplätze, keine Lebensmittelläden mit frischen Produkten. Die Leute sind verzweifelt und tun, um zu überleben, bedauerlicherweise oft illegale Dinge.»
Die Situation in den Armenquartieren ist zwar schon seit mehreren Jahrzehnten desolat, doch in letzter Zeit kommen Verzweiflung und Aussichtslosigkeit dazu. Die heile Welt mit den Touristen, den edlen Hotels und den Einkaufsläden ist nur zehn Autominuten entfernt: «Downtown ist eine der schönsten Gegenden der Welt», findet Sawyer. Aber davon spüre man hier leider nichts.
Gangs und Rassismus bei der Polizei
Experten nennen weitere Gründe für die vielen Morde: Gangs und Drogenbanden, die um Einfluss und Territorium kämpfen; die vielen illegalen Waffen; der warme Winter; der Fakt, dass Kriminelle zu schnell wieder aus dem Gefängnis kommen. Zudem ist die Polizei von Chicago wegen diverser Übergriffe massiv unter Beschuss geraten. Das US-Justizministerium untersucht die Vorfälle. Ein Bericht der Stadt Chicago konstatierte kürzlich systematischen Rassismus im Polizeikorps.
Für eine Flut von Schlagzeilen sorgte der Fall eines weissen Polizisten, der einen schwarzen Teenager mit 16 Schüssen niedergestreckt hatte, obwohl dieser nur ein Klappmesser trug. Filmaufnahmen der Polizei wurden mehr als ein Jahr unter Verschluss gehalten. Das hat dem Polizeichef seine Stelle und dem Bürgermeister fast sein Amt gekostet.
Die Polizisten machen deshalb bloss noch Dienst nach Vorschrift.
Die Moral im Polizeikorps sei auf einem Tiefststand, klagt Dean Angelo, Präsident der lokalen Polizeigewerkschaft «Fraternal Order of Police». Die Beamten hätten das Gefühl, sie würden alle über denselben Kamm geschert. «Die Polizisten machen deshalb bloss noch Dienst nach Vorschrift», sagt Angelo in seinem Büro, hinter ihm dekorieren Abzeichen und Urkunden die Wand.
Seit Jahresbeginn hat die Polizei 30 Prozent weniger Verdächtige verhaftet und 80 Prozent weniger Ausweise kontrolliert. «Jedes Mal, wenn sie jemanden anhalten, zücken die Leute ihr Handy, filmen und beschimpfen die Polizisten wie nie zuvor».
Bei den meisten Morden sind Täter und Opfer Afroamerikaner. Auch das muss aufhören!
Ein neuer Polizeichef soll es richten. Eddie Johnson ist Afroamerikaner, stammt aus armen Verhältnissen und ist in einer der berüchtigten sozialen Wohnbausiedlungen Chicagos aufgewachsen. Seine Hauptaufgabe ist es, das Vertrauen zwischen der Polizei und der Bevölkerung wiederherzustellen. Das sei richtig und wichtig, sagt der Stadtabgeordnete Roderick Sawyer.
Die weissen Polizisten müssten die Afroamerikaner korrekt behandeln. Aber auch die schwarze Bevölkerung stehe in der Pflicht. «Bei den meisten Morden sind Täter und Opfer Afroamerikaner, meistens sogar noch Teenager. Auch das muss aufhören!»
Es ist frustrierend, aber ich gebe nicht auf.
Einfach lässt sich der blutige Trend in Chicago nicht wenden, das weiss auch Roderick Sawyer. «Es ist frustrierend, aber ich gebe nicht auf. Ich werde hier nicht weggehen. Ich werde weiterkämpfen.»
Die Lösung liege eigentlich auf der Hand: Die Stadt und die Privatwirtschaft müssten endlich mehr Geld in die armen Quartiere investieren, nicht nur dort, wo die Wohlhabenden zu Hause seien. Das ist eine einfache Lösung, aber Chicagos Vergangenheit zeigt, dass es schwierig ist, sie zu realisieren.