Darf ein Staat um des inneren Friedens Willen Kriegsverbrechen, Massaker und schwere Menschenrechtsverletzungen im Nachhinein für straffrei erklären? Die obersten Richter El Salvadors sagten jetzt, 23 Jahre nach Verabschiedung des uneingeschränkten Amnestiegesetzes, nein. Denn das verstosse gegen die Verfassung und gegen internationale Menschenrechtskonventionen.
Entsetzte Politiker
Die politische Elite des mittelamerikanischen Landes ist entsetzt: Jetzt würden alte Konfliktherde neu entfacht, eine Hexenjagd drohe, die Gesellschaft werde gespalten, heisst es sowohl von links wie von rechts. Die richterliche Entscheidung sei ein politischer Fehler, der die Wunden des Bürgerkrieges wieder aufreisse, meinte Verteidigungsminister Munguía Payés. Menschenrechtler halten dem entgegen, das Ende des Krieges sei kein Friedensabkommen gewesen, sondern politische und wirtschaftliche Absprache.
Tatsächlich war es ein politischer Pakt, der das Amnestiegesetz 1993 ermöglichte. Schliesslich sassen – und sitzen – im Parlament die verfeindeten Kriegsparteien, die quasi über Nacht zu verfeindeten politischen Parteien geworden waren: Die rechtsextreme Arena, deren Gründer Roberto D'Aubuisson im Krieg die berüchtigten Todesschwadronen befehligte, und die Guerilla der FMLN, die nicht einmal ihren Namen änderte: Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí. Einer ihrer berüchtigten Comandantes, Sánchez Cerén, ist heute Präsident von El Salvador.
Ungesühnte Bluttaten
Im nationalen Versöhnungsgesetz von 1992 waren schwere Gewaltverbrechen zuerst noch von der Amnestie ausgenommen worden. Das Amnestiegesetz von 1993 aber war dann ein Pakt der Straflosigkeit: Alle Taten während des Bürgerkrieges sollten ungesühnt bleiben. Diese Selbst-Amnestie der Politiker erklärten die obersten Richter jetzt für nichtig. Damit können und sollen Strafverfolger grausamste Verbrechen aus dem Bürgerkrieg vor Gericht bringen.
Eines ist das Massaker von El Mozote: Im Dezember 1981 tötet die Armee-Eliteeinheit «Atlacatl» innerhalb von zwei Tagen 900 Zivilisten in der ländlichen Gegend. Bis heute ist das Massaker nie strafrechtlich verfolgt worden. Ein anderes ist die interne ideologische Säuberung bei der FMLN Mitte der 1980er-Jahre: Die Guerilla ermordet mehrere hundert ihrer eigenen Kämpfer, die Bluttaten wurden nie juristisch beurteilt.
Mord an Erzbischof Romero nie gesühnt
Ein weiteres geschah im März 1980: Der Erzbischof von El Salvador, Oscar Romero, hebt in der Abendmesse den Kelch am Altar gen Himmel. Ein einziger Schuss wird vom Haupteingang abgegeben. Der bei der Militärjunta verhasste Befreiungstheologe sackt tot zusammen. Als einer der Anstifter gilt der inzwischen verstorbene Gründer der Arena-Partei. Die Täter wurden nie vor Gericht gestellt.
Knapp zehn Jahre später, im November 1989, kommt es zu einem Massaker an Befreiungstheologen: Sechs Jesuiten-Pater, ihre Haushälterin und deren Tochter werden von Soldaten exekutiert. Eines der Opfer ist Universitätsdirektor Ignacio Ellacuria, ein enger Freund des ermordeten Erzbischofs Romero. Der Generalstab der Armee hatte das Massaker beschlossen und den Befehl wiederum der Eliteeinheit «Atlacatl» erteilt. Die Tat wurde nie strafrechtlich verfolgt.
Jetzt soll ermittelt werden
Erst jetzt, nach jahrelangen Protesten von Menschenrechtlern, bestimmte das oberste Gericht, dass sowohl gegen die Täter von Kriegsverbrechen als auch gegen die höchsten Befehlshaber des Militärs und der Guerilla ermittelt werden soll. Möglich wurde das Urteil durch Veränderungen im Justizwesen: Wie im Nachbarland Guatemala haben in den letzten Jahren auch in El Salvador immer mehr unabhängige Richter ihre politikhörigen Vorgänger abgelöst.