In der Türkei löst das Schicksal einer Kinderbraut Entrüstung aus. Das Mädchen Kader wurde im armen Südosten des Landes als 11-Jährige von ihrer Familie verheiratet. Mit 13 brachte sie bereits ihr zweites Kind auf die Welt, das kurz nach der Geburt starb. Nun – mit 14 Jahren – wurde Kader erschossen aufgefunden. Die Familie ihres Mannes sagt, es sei Selbstmord gewesen.
«Die Frauenverbände und die Medien laufen Sturm», sagt Thomas Seibert im Gespräch mit SRF. Er ist Journalist in Istanbul. Sie fragten sich, wie Kinderbräute in einem modernen Staat wie der Türkei möglich seien. Dabei sind solche Fälle – obwohl illegal – offenbar an der Tagesordnung.
Einen Grund sieht Seibert im Verhalten der Regierung: «Es ist ein nahezu unlösbares Phänomen, weil der Staat in dieser Sache selber nicht engagiert ist.» Zwar starte die Regierung immer wieder Kampagnen, bleibe jedoch nicht am Ball und packe das Problem nicht an der Wurzel an. Es gebe staatlich bezahlte Imame, die Kinderhochzeiten religiös absegneten.
Offizielle Zahlen gibt es keine
Ausserdem seien viele der illegal verheirateten Kinder gar nicht amtlich registriert. Von der 14-jährigen Kader gibt es einzig ein Foto, das beweist, dass das Mädchen gelebt hat. Misstrauisch gewordene Ärzte hatten Kader fotografiert, als sie mit 13 Jahren wegen einer Frühgeburt in einem Spital auftauchte. Oft würden aber gerade Spitalangestellte, Schulbehörden und Polizei zu wenig genau hinschauen, sagt Seibert.
Weil die Kinderhochzeiten illegal sind, gibt es auch keine offiziellen Zahlen. Wissenschaftliche Studien sprechen aber von rund 180'000 Kinderbräuten in der Türkei, wie Seibert erklärt. Laut anderen Studien soll es in den letzten Jahrzehnten insgesamt fünf Millionen solcher Fälle gegeben haben.
«Oft gibt es Tauschgeschäfte»
«Die breite Öffentlichkeit erfährt meistens nichts von diesen Fällen», sagt Seibert. Und das engere Umfeld der betroffenen Kinder im Dorf oder im Quartier habe oft die gleichen Wertvorstellungen, goutiere das Vorgehen – oder mache sogar mit.
Im Fall von Kader war das Mädchen einem damals 17-Jährigen zur Frau gegeben worden. Im Gegenzug erhielt ihre Familie ein Mädchen aus der Familie des Bräutigams für den Bruder von Kader. «Solche Tauschgeschäfte gibt es oft», so Seibert.
Die Opposition erhebt nun die Forderung an die Regierung in Ankara, es den staatlich angestellten Imamen ausdrücklich zu verbieten, Zeremonien mit Kinderbräuten zu leiten. Das staatliche Religionsamt wehrt sich gegen die Vorwürfe: Es handle sich um selbsternannte Imame, die solche Hochzeiten absegneten.
Trotz des nun bekannt gewordenen Falls wird es laut Seibert kaum zu Änderungen kommen: «Ich bin pessimistisch.» Einige Medien schreiben, Kader sei ermordet worden. Sollten die Ermittler ebenfalls zu diesem Schluss kommen und die Täter zu langen Haftstrafen verurteilt werden, dann könnte vielleicht eine Signalwirkung entstehen. «Sollte sich aber herausstellen, dass es Selbstmord oder ein Unfall war, dann glaube ich nicht, dass sich etwas ändert, denn dann wird auch niemand zur Rechenschaft gezogen.»