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International Erdogan-Rhetorik: «Säuberung von Krebsviren geht weiter»

Der türkische Staatsapparat hat in den vergangenen Stunden tausende Menschen festgenommen. Nun hat sich Staatschef Erdogan an seine «Brüder» gewandt. Gegen die Gülen-Anhänger kündigt er ein «gnadenloses Vorgehen» an. Er macht sie für den Putsch verantwortlich – und benutzt allerhand Kriegsrhetorik.

Der türkische Staatsapparat hat bereits am Tag des Putschversuchs mit der von Präsident Erdogan angekündigten «Säuberung» von Militär und Justiz begonnen. Unterdessen sind schon 6000 Menschen festgenommen worden.

In allen Behörden des Staates wird der Säuberungsprozess von diesen Viren fortgesetzt. Denn dieser Körper hat Metastasen produziert. Leider haben sie wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen.
Autor: Recep Tayyip Erdogan Türkischer Präsident

Unter den Festgenommenen befinden sich mehrere Generäle, Richter, Staatsanwälte, zwei Verfassungsrichter sowie zehn Mitglieder des türkischen Staatsrats – eines der obersten Gerichte. Unklar bleibt, bei wie vielen es sich um Zivilisten handelt.

Medien zufolge sind 140 Richter und Staatsanwälte zur Fahndung ausgeschrieben – sie würden unter anderem der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation beschuldigt. Ferner wurden fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte und mehr als 2700 Richter abgesetzt.

Die Zahl der Toten bei dem gescheiterten Putsch ist nach Angaben des Aussenministeriums auf fast 300 gestiegen. Über 100 Putschisten sowie «mehr als 190 unserer Bürger» seien getötet und über 1400 Menschen verletzt worden.

Gülen würde sich Auslieferung stellen

Erdogan macht Anhänger des in den USA im Exil lebenden Erzfeindes und Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. Sie seien es, die die Streitkräfte «ruiniert» hätten. Festgenommen seien nun Soldaten aller Ränge.

Fethullah Gülen weist die Vorwürfe Erdogans erneut zurück. Seine Botschaft an das türkische Volk sei, dass «eine militärische Intervention niemals positiv zu sehen sei». Das sagte der 75-Jährige in Saylorsburg, Pennsylvania. Auf diese Weise könne Demokratie nicht erreicht werden.

Eine Beteiligung seiner Anhänger an dem Putschversuch könne er nicht ausschliessen, denn er sei sich inzwischen unsicher, wer seine Anhänger in der Türkei seien, zitierte die «New York Times» aus dem Interview. Er würde sich aber einem Auslieferungsantrag beugen.

Das juristische Verfahren geht weiter.
Autor: Bekir Bozdag Türkischer Justizminister

Todesstrafe ist wieder ein Thema

Erdogan und sein Premier Binali Yildirim sprachen bereits am Tag des Putsches von der Wiedereinführung der Todesstrafe. Yildirim sagte, die Todesstrafe sei zwar in der Verfassung nicht vorgesehen, man werde aber Gesetzesänderungen prüfen, um zu verhindern, dass sich Ähnliches wiederhole. Darüber könne im Parlament gesprochen werden. Der Präsident sagte allerdings später: «Es ist nicht nötig, sich dafür von irgendwoher eine Erlaubnis einzuholen.» .

Noch einzelne Putschisten verhaftet

Die Regierung hat inzwischen wieder die Kontrolle über das Land erlangt. Es gebe zwar noch einzelne Gruppen von Putschisten in Istanbul, sagt ein Regierungsvertreter. Doch diese stellten keine Gefahr mehr dar.

Laut der Regierung haben Putschisten am zweiten Flughafen Sabiha Gökcen in Istanbul noch am Sonntag vorübergehend Widerstand gegen ihre Festnahme geleistet. Sicherheitskräfte auf der Regierungsseite hätten Warnschüsse abgeben müssen, bevor es zu den Festnahmen gekommen sei.

Auch auf der Luftwaffenbasis im zentralanatolischen Konya sei es am Sonntag noch zu Zusammenstössen gekommen. Dort sei die Lage aber inzwischen unter Kontrolle.

Politische Spaltung verschärft sich

Luc Walpot, Korrespondent des ZDF in Istanbul bestätigt in der «Tagesschau» den Säuberungs-Prozess. Es sei fast surreal, wenn man durch die Stadt gehe. Alles wirke normal, die Geschäfte seien geöffnet wie immer und Touristen seien auf der Strasse.

«Aber es läuft tatsächlich eine ungeheure Festnahmewelle. Es werden Zivilisten abgeführt, hochrangige Richter, Staatsanwälte und viele Militärs ohne Rangabzeichen. Es stellt sich aber die Frage, ob es dazu eine rechtstaatliche Grundlage gibt.»

Laut Walpot standen hinter dem Aufstand im Wesentlichen Einheiten der Gendarmerie und der Luftwaffe. Das Heer und die Marine waren weniger beteiligt. «Es sollen nur wenige ganz hochrangige Offiziere Generäle und Obersten darin verwickelt sein. Aber ein Gros von unteren Rängen, also Majore, Hauptleute und Oberleutnante. Denen wurde teilweise gesagt, dass es eine Übung sei. Das klingt nach einer sehr schlecht vorbereiteten Aktion von einigen Militärs, die so nicht zum Erfolg geführt hat.»

Politisch habe sich die Stimmung in der Türkei verschlechtert, sagt Walpot: Diejenigen Türken, die nicht zu den Anhängern Erdogans zählen, die haben jetzt ganz massive Befürchtungen. In zwei Tagen wurden 6000 Verdächtige verhaftet. Da glaubt niemand in der Türkei, dass das mit rechten Dingen zugeht.

«Das könnte der Start einer neuen Welle der Repression sein, und zwar gegen jeden, der sich Erdogan in den Weg stellt. Die Spaltung des Landes ist nicht aufgehoben, sie wird sich eher noch verschärfen», fasst Walpot zusammen.

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