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International «Es ist die schlimmste Zeit, die ich je erlebt habe»

Seit dem gescheiterten Putsch im Juli in der Türkei sind Zehntausende aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden oder sitzen in Untersuchungshaft. Besonders hart geht die Regierung gegen Kurden vor. Etwa in Diyarbakir, wo sich Gülten Kisanak und Firat Anli das Bürgermeisteramt teilen.

Sie kommen aus einem Land, das verstört. Und aus einem Alltag, den Krieg und Repression prägen. Eine ganz andere Realität als in Zürich, wo sich Gültan Kisanak und Ferat Anli für ein paar Tage aufhalten. In der Stadt, mit der sie näher in Kontakt treten wollen. «Ein Orchester aus Zürich war schon bei uns in Diyarbakir», erzählt Firat Anli. Jetzt gehe es darum, diese Verbindung in Gesprächen mit den politisch Verantwortlichen zu vertiefen. Im Zürcher Gemeinderat wurde die Idee diskutiert.

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Diyarbakir – Zerstörung, Enteignung, Vertreibung
aus Rendez-vous vom 06.10.2016. Bild: Reuters
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«Vielleicht erwachsen daraus konkrete Projekte», sagt Firat Anli. Und Gültan Kisanak ergänzt: «Es ist für uns wichtig, hier Solidarität zu erfahren – eine Brücke zu schlagen zwischen hier und dort, das wäre schön.» Es sind überlegte, kontrollierte Worte. Für Gültan Kisanak und Firat Anli, eine Kurdin und ein Kurde, die sich das Stadtpräsidium in Diyarbakir teilen, kann jede Aussage gefährlich sein.

HDP-Politiker sind Erdogans Feindbild

Kisanak und Anli gehören der prokurdischen HDP an. Diese Partei ist für Präsident Erdogan der Feind schlechthin, ein- und dasselbe wie die kurdische Arbeiterpartei PKK, allesamt Terroristen. HDP-Politiker können noch so oft zur Gewaltlosigkeit aufrufen und sich vom Terror der PKK distanzieren. Allein im September wurden in 27 Rathäusern die gewählten kurdischen Bürgermeister abgesetzt.

Dies mit der Behauptung, sie unterstützten die PKK. «Die türkische Regierung hat ihre eigenen Leute eingesetzt», sagt Gültan Kisanak. Das sei ein schwerer Schlag gegen die Demokratie. Denn damit wird die begrenzte lokale Autonomie der Kurden gestoppt, die sie auf demokratischem Weg erreicht haben; gestoppt von einem Staatspräsidenten, der unter Ausnahmezustand und per Dekret regiert.

Aufkeimenden Frieden zunichte gemacht

In den zwei Jahren, in denen der türkisch-kurdische Friedensprozess anlief und der Krieg Pause machte, konnten die Kurden nämlich in ihren Gebieten im Südosten des Landes dank guter Wahlresultate in viele lokale Behörden einziehen.

Firat Anli
Legende: Firat Anli, hinter ihm eine Karte von Diyarbakir, der Stadt im Südosten der Türkei, deren Co-Bürgermeister er ist. Reuters/Archiv

Die kurdische Zivilgesellschaft hatte sich auf den Weg gemacht, die Dinge friedlich zu verändern, sich gewaltlos aus der Repression zu befreien, aber das darf offensichtlich nicht sein, sagt Firat Anli: «Viele haben sich in Quartiervereinen, Frauengruppen und Gewerkschaften engagiert. Aber jetzt stehen auch diese Aktivisten im Visier der Regierung.» Die HDP habe den Putschversuch des Militärs sofort verurteilt, sagt Anli. Aber Erdogan tat so, als habe er das nicht gehört.

Terroranschläge durch radikale Jugendliche

«Er grenzt die HDP aus und reduziert sie auf ihren kurdischen Kern, weil es ihm nicht gefällt, dass diese Partei auch für Minderheiten, linke und liberale Türken eine Alternative ist.» Die Säuberungen halten in unvorstellbaren Dimensionen an: 11'000 kurdische Lehrer wurden letzten Monat entlassen. Ihnen wird vorgeworfen, sie stünden der PKK nahe. Zudem wurden 22 kurdische Radio- und TV-Sender geschlossen. Sogar ein Trickfilmsender, der Micky Maus auf Kurdisch ausstrahlte.

Gültan Kisanak
Legende: Gültan Kisanak im Mai 2013, vor ihrer Wahl zur Co-Stadtpräsidentin in ihrem Parteibüro in Ankara. Reuters/Archiv

«Alles zu», so Kisanak. Unterdrückung, wo Demokratie zu wachsen begann. Anli und Kisanak wissen – und verneinen es nicht – dass sich die kurdische Jugend radikalisiert. Auch im Krieg, seit über einem Jahr. Diesen Krieg in die Städte zu tragen und in Istanbul und Ankara Terroranschläge zu verüben, wird auch von vielen Kurden als Fehler der PKK angesehen. Denn die kurdische Bevölkerung hat genug vom jahrzehntelangen Krieg, sie hat genug davon, Haus und Hof zu verlieren.

So vieles liegt erneut in Trümmern, zum Beispiel das historische Zentrum von Diyarbakir. Sechs von zehn Stadtteilen sind zerstört, Kirchen, Moscheen, der Kern der Altstadt, Unesco-Kulturerbe, das Handelszentrum. «Alles abgesperrt, die Menschen vertrieben, wir sehen nur Satellitenbilder, können nicht hinein», sagt Gültan Kisanak.

Enteignung und Entvölkerung der Innenstädte

Im März hat die türkische Regierung die Enteignung der Altstadt beschlossen, die Verstaatlichung der Gebäude. 70 Prozent der Häuser gehören laut den beiden Bürgermeistern den kurdischen Einwohnern, 30 Prozent sind vermietet, die Stadt selber besitzt 174 Gebäude. Wenn das Enteignungsgesetz in Kraft tritt, hat niemand mehr irgendwelche Rechte, keiner kann mehr zurückkehren.

Es würde uns nicht überraschen, wenn sie uns nächstens sagen würden, ihr dürft nicht mehr atmen.
Autor: Gültan Kisanak Co-Bürgermeisterin von Diyarbakir

Auch in anderen Städten sei die Lage ähnlich, und die Stadt Sirnak existiere schon gar nicht mehr. Zerstörung, Enteignung, Verfolgung, Vertreibung – all dies sei heute offizielle Politik dieser Regierung. «Es ist die schlimmste Zeit, die ich erlebt habe, die schwerste Repression.» Gültan Kisanak deutet nur in einem Nebensatz an, dass sie weiss, wovon sie spricht. Nach dem Putsch von 1980 war sie als junge Frau viereinhalb Jahre im Gefängnis. Sie überlebte schwerste Folter.

«Es würde uns nicht überraschen, wenn sie uns nächstens sagen würden, ihr dürft nicht mehr atmen.» Das Lachen der ruhigen und kontrollierten Frau ist nur ganz kurz und leise.

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