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International «Es müssen hunderte Kilogramm Sprengstoff im Spiel gewesen sein»

Nach dem Blutbad in Ankara geht die türkische Regierung von einem Terroranschlag aus. Doch wer kommt als Täter in Frage und wie wird sich die Attacke auf die Wahlen auswirken? Einschätzungen vom ARD-Korrespondenten Reinhard Baumgarten.

SRF News: Weiss man inzwischen Näheres über die Täter?

Reinhard Baumgarten: Möglicherweise, aber die Behörden sagen dazu nichts. Der Innenminister hat in einer Pressekonferenz erklärt, aufgrund der laufenden Ermittlungen wolle er keine Informationen preisgeben.

Reinhard Baumgarten

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Porträt von Reinhard Baumgarten
Legende: ZVG

Reinhard Baumgarten ist langjähriger Nahost-Korrespondent der ARD in Istanbul. Der Islamwissenschaftler hat zahlreiche Publikationen über die Region veröffentlicht.

Das Ziel zumindest war eindeutig: Man wollte die Erdogan-kritischen linken Gruppen treffen. Bereits gibt es den Verdacht, Islamisten oder regierungsnahe Nationalisten steckten hinter den Anschlägen. Sind das pure Verschwörungstheorien?

Nein, natürlich nicht. Es gibt hier knallharte Drohungen, sowohl von islamistischer wie auch von nationalistischer Seite. Und es kam ja auch schon zu einem Anschlag bei einer Parteiveranstaltung vor der Wahl im Juni. Dabei handelte es sich um eine Veranstaltung der prokurdischen HDP. Da gab es ähnliche Sprengsätze, wie sie offenbar heute verwendet wurden – mit kleinen Kugeln aus irgendwelchen Kugellagern. Solche Explosionen haben eine gewaltige Wirkung, weil dann hunderte, wenn nicht tausende von Kugeln durch die Gegend sausen. Deswegen ist auch die Zahl der Verletzten so hoch.

Zudem gab es diesen Anschlag Ende Juli in Suruc. Dort gabs eine eindeutige Querverbindung zur Terrormiliz Islamischer Staat. Auch damals wurden linke Aktivisten getroffen. Insofern ist es angebracht, darüber zu spekulieren, ob es diesmal wieder Islamisten gewesen sein könnten.

Präsident Erdogan seinerseits verglich den Terrorangriff heute mit Anschlägen der verbotenen Arbeiterpartei PKK. Da bestehe überhaupt kein Unterschied. Giesst er damit nicht Öl ins Feuer?

Das macht er immer. Interessanterweise hat er auch Ende Juli angefangen, ein paar Bomben in Richtung IS abzuwerfen. Alle Welt jubelte und sagte: «Endlich steigt die Türkei in den Anti-IS-Kampf ein.» Der dauerte aber nur wenige Stunden. Seither konzentrieren sich die türkischen Sicherheitskräfte auf die Bekämpfung der PKK. Und er zieht immer wieder denselben Vergleich: Dass er keinen Unterschied sehe zwischen der PKK einerseits und der IS-Terrormiliz andererseits. Für ihn ist Terrorist gleich Terrorist. Und wenn er dieses Massaker wieder über denselben Kamm schert, dann verrät das eigentlich schon, wes Geistes Kind er ist.

Seit er die Friedensgespräche mit der verbotenen Arbeiterpartei PKK abgebrochen hat, ist die Gewalt zwischen den Kurden und den Sicherheitskräften wieder stark eskaliert. Könnte das für Erdogan ein Anlass sein, noch härter gegen die Kurden vorzugehen?

Der Mann braucht keine Anlässe. Es war auch völlig unnötig, diesen Friedensprozess einfach so fahrlässig zu beenden. Es war ja nicht so, dass die PKK plötzlich zu einem ganz grossen Sicherheitsrisiko geworden wäre. Der politische Hintergrund ist vielmehr, dass die AKP – sein Kind – die Wahl im Juni verloren hat. Sie gewann zwar die meisten Stimmen und Sitze. Aber sie hat die absolute Mehrheit eingebüsst. Somit war das Wahlergebnis für Erdogan niederschmetternd. Die Konsequenz daraus sind Neuwahlen, die in drei Wochen stattfinden werden.

Das Furchtbare ist, dass diese Eskalation, die wir jetzt seit zwei Monaten erleben, möglicherweise auch Kalkül ist – von wem auch immer. Es wird eine Atmosphäre der Angst geschaffen, und dann gehen viele Leute entweder gar nicht wählen oder sie wählen eben die Partei, die – so glaubt Erdogan – die meiste Sicherheit verspricht, nämlich die AKP.

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Kurz nach dem Anschlag hat die PKK einen Gewaltverzicht bis zu den Wahlen angekündigt. Was bezweckt sie damit?

Das ist der Versuch, etwas Ruhe reinzubringen. Damit die HDP, die ja nun auch aus der kurdischen Bewegung hervorgegangen ist, bessere Aussichten hat, wieder ins Parlament einzuziehen. Die PKK-Führung hat gesagt, sie fordere ihre Guerillas auf, die Attacken und Anschläge einzustellen, wenn «die Sicherheitskräfte sich auch dran halten». Also: Die PKK-Leute dürfen sich weiterhin wehren. Und der stellvertretende Regierungschef hat gestern schon klargestellt, selbst wenn die PKK einen einseitigen Waffenstillstand ausrufen sollte, dann würde man sie trotzdem weiter angreifen. Insofern ist das zumindest mal ein Signal seitens der PKK, das sich möglicherweise politisch nutzen lässt – aber mehr nicht.

Zurück zu heute: Wie kommt es eigentlich, dass die angekündigte Friedensdemonstration mitten in Ankara so schlecht geschützt war?

Wie kommt es, dass diese Aktivisten von Suruc Ende Juli so schlecht geschützt waren? Wie kommt es, dass dieser Terroranschlag im Juni, kurz vor den Wahlen stattfinden konnte? Das sind Fragen, die sich hier auch linke Aktivisten und Kurden stellen.

Andererseits: Wenn die Täter entschlossen sind, kann man dagegen fast nichts machen. Zudem ist noch nicht geklärt, was eigentlich passiert ist. Die Wucht der Explosionen spricht nicht für Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürteln. Wenn so viele Menschen umkommen, dann müssen hunderte von Kilogramm Sprengstoff im Spiel gewesen sein. Das heisst, jemand hat an notorisch gefährlicher Stelle diese Sprengsätze platziert und dann in diesem Moment gezündet.

Das Massaker hat die Menschen in der Türkei schwer erschüttert. In allen möglichen Städten gehen sie auf die Strassen. Welche Auswirkungen hat das auf die Wahlen, die am 1. November stattfinden?

Die Sicherheitslage wird von Woche zu Woche schlechter. So gesehen wird es höchste Zeit, dass die Wahlen stattfinden. Wenn sich die Gewaltspirale so weiter dreht, ist natürlich die ganz grosse Frage: Können hier faire und freie Wahlen stattfinden? Was lässt sich die Regierung noch einfallen? Vielleicht lässt sie die Leute nur in bestimmten abgesicherten Gegenden oder Arealen wählen. Dann wird die Wahlbeteiligung natürlich sinken. Es gibt da schon noch eine Menge Tricks, über die im Netz auch wüst spekuliert wird.

Das Gespräch führte Ursula Hürzeler.

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