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International «EU-Beitrittsprozess soll Türkei reformieren»

Der türkische Premier Erdogan besucht am Dienstag Brüssel. Wegen des Korruptionsskandals muss sich der Premier unangenehmen Fragen stellen. Gefährdet ist der EU-Beitrittsprozess aber nicht. Denn beide Seiten hätten Interesse an einer guten Partnerschaft, so Türkei-Experte Günter Seufert.

Porträt Günter Seufert
Legende: Dr. Günter Seufert arbeitet bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik (Berlin). SWP

SRF News Online: Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan steht wegen des Korruptionsskandals und der Reaktion seiner Regierung darauf in der Kritik. Was erwartet Erdogan in Brüssel?

Günter Seufert: Erdogan wird in Brüssel deswegen sehr deutliche Kritik erfahren. Es ist bereits der zweite Vorfall, an dem deutlich wird, dass die Regierung Erdogan auf zivilen Protest und Kritik sehr autoritär reagiert. Mit der Niederschlagung der Proteste im Sommer im Gezi-Park und mit den jüngsten Reaktionen auf die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen hat sich gezeigt, wie schlecht es in der Türkei nach wie vor bestellt ist um Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit.

Den Fortgang der Beitrittsverhandlungen wird man aber meiner Meinung nach nicht in Frage stellen. Die positive Atmosphäre, die sich mit der Eröffnung des Kapitels zur Regionalpolitik im Oktober 2013 und der Verabschiedung des letzten Demokratisierungspakets der Regierung Erdogan im September ergeben hatte, ist aber längst wieder vorbei.

Hat der harte Kurs der Regierung die Sicht der Türken auf die EU verändert?

Beobachtet man die öffentliche Diskussion (Presse, Fernsehen, Stellungnahmen von politischen Parteien), muss man sagen, dass die EU wieder mehr ein Thema geworden ist. Das Interesse an einer Anbindung der Türkei an die EU wird wieder sehr viel stärker artikuliert.

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Der türkische Ministerpräsident reist am Dienstag nach Brüssel. Bei dem Besuch dürften auch die Korruptionsaffäre und Erdogans umstrittenes Krisenmanagement darauf zur Sprache kommen. Ein kritischer Empfang ist dem Premier sicher. Hier mehr dazu.

Was sind die Gründe für das zunehmende Interesse an der EU?

Das jetzt zu Tage tretende Ausmass an Korruption hat auch der Wirtschaft gezeigt, wie sehr sie nach wie vor abhängig ist von den Launen und dem politischen Ränkespiel der Regierung. Zudem sind die ausländischen Direktinvestitionen im Land stark zurückgegangen, was nicht gut für die türkische Wirtschaft ist.

Viele der erst in den letzten Jahren erschlossenen Exportmärkte, auf deren Wachstum zum Teil auch die türkische Wirtschaftsdynamik beruhte, sind wegen der konfrontativen Aussenpolitik Erdogans gefährdet. Das reicht von Syrien bis in den Irak, wobei Syrien als Transportweg vor allem in die Golfstaaten wichtig ist. Noch vor drei, vier Jahren hat die Aussenpolitik der türkischen Wirtschaft neue Exporträume erschlossen, damit ist es vorbei.

Das erhöht wieder die Bedeutung des stabilen europäischen Exportmarktes, von dem man glaubte, ihn ein Stück weit vernachlässigen zu können, weil die EU sich sowieso im Niedergang befinde.

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Die Türkei hat seit dem Korruptionsskandal einen neuen EU-Minister. Dieser gilt als konsensorientierter als sein Vorgänger. Hat dies Auswirkungen auf die Beitrittsverhandlungen?

Die Wahl von Mevlüt Cavusoglu ist eine wichtige Entscheidung Erdogans, auch wenn dieser ein Getreuer Erdogans ist. Im Vergleich zum ehemaligen EU-Minister Egemen Bagis ist alles, was danach kommt, ein Riesenfortschritt. Bagis hat sich in den letzten Jahren als Hardliner präsentiert und versucht, mit EU-Bashing innenpolitisch an Profil zu gewinnen. Dies war eine Katastrophe für die Beziehung zur EU.

Und in der EU? Wer vertritt dort welche Verhandlungsposition?

Innerhalb der EU gibt es keine in sich geschlossene Türkei-Politik. Einerseits haben wir die Position einiger Nationalstaaten, die eher skeptisch sind und wenig tun, damit der Beitrittsprozess vorangeht. So blockiert beispielsweise Frankreich fünf Kapitel der Verhandlungen, ebenso Zypern. Die deutsche Bundesregierung folgt dem Prinzip «pacta sunt servanda». Aber die grösste Regierungspartei Deutschlands (CDU) ist gegen den EU-Beitritt Ankaras. Andererseits haben wir Staaten (wie England, Italien) die eher für eine Förderung des Beitrittsprozesses sind.

Auch innerhalb der verschiedenen EU-Gremien sind bezüglich eines EU-Beitritts der Türkei sehr unterschiedliche Stimmen zu hören. So ist zum Beispiel das europäische Parlament in seinen Berichten zur Türkei weitaus kritischer als die EU-Kommission.

Diese EU-Kommission will die Beitrittsverhandlungen offenbar weiter vorantreiben. Nur so bleibe das Land auf Reformkurs. Ist diese Überlegung weiterhin aktuell?

Ich denke, es ist mittlerweile jedem klar, dass das Projekt EU-Mitgliedschaft der Türkei wahrscheinlich nicht zum Abschluss kommen wird. Trotzdem ist es sinnvoll, die Beitrittsgespräche weiterzuführen. Denn eine Verbesserung der Beziehungen Ankaras zur EU ausserhalb dieser Gespräche hat sich als nicht als möglich erwiesen. Die Türken sind ein zu wichtiger Partner, aussen- und sicherheitspolitisch, um sie zu brüskieren. Viele Politiker sind der Meinung, dass man den Beitrittsprozess weiter treiben muss. Im Wissen, dass selbst wenn eines Tages alle Kriterien erfüllt sind, die Türkei wahrscheinlich gar nicht beitreten würde.

Meiner Meinung nach ist der Beitritt auch gar nicht das Ziel der jetzigen türkischen Regierung. Sie braucht aber den Prozess – für das Image des Landes, für die Wirtschaft und für die Beruhigung grosser Teile der Bevölkerung. Für die EU sehe ich den Beitrittsprozess als Instrument zur Anbindung der Türkei und zur Transformation des Landes. Nur er ermöglicht die Fortführung konkreter sicherheitspolitischer Zusammenarbeit.

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