Am Nachmittag beraten die EU-Staats- und Regierungschefs die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer an einem Sondergipfel in Brüssel. Europarats-Präsident Donald Tusk, der den Gipfel initiiert hat, hat die Mitgliedstaaten aufgefordert, nationale Interessen zurückzustellen.
Knackpunkt: Rücksendung und Verteilung
Erste Aufgabe sei, Schlepperbanden zu bekämpfen und zu verhindern, dass die Menschen überhaupt an Bord von Schiffen gehen. Zweitens müsse die EU ihre Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer verstärken. Zudem sei eine engere Kooperation mit den Herkunfts- und Transitländern in Afrika nötig. Die grösste Herausforderung sei aber, dass sich die Mitgliedsländer auf ein gemeinsames Vorgehen bei der Rücksendung und der Verteilung von Flüchtlingen einigten.
Zur Diskussion am Gipfel liegt ein 10-Punkte-Plan der EU-Kommission vor. Die Staats- und Regierungschefs können die Punkte ändern, ganz streichen oder darüber hinausgehen. Der Plan im Überblick.
Der 10-Punkte-Plan der EU-Kommission
Ob Schlepperboote tatsächlich zerstört werden können, bevor sie ins Meer stechen, wird bezweifelt. «Die Ermittlungsbehörden in Sizilien sind da sehr skeptisch», berichtet SRF-Korrespondent Philipp Zahn aus Sizilien.
«Die Flüchtlinge hinter mir kamen auch auf zwei Schlauchbooten. Diese Boote werden in Libyen in Garagen oder Häusern direkt am Strand versteckt und erst kurz vor der Abreise an den Strand gezogen, sodass es wirklich sehr schwierig sein wird für europäische Eingreiftruppen oder Drohnen, Schlauchboote an den libyschen Stränden zu erkennen.»
Italien will neuen Verteilschlüssel
Zumindest hätte Italien mit dem Sondergipfel nun nicht mehr den Eindruck, alleine gelassen zu werden mit der Tragödie. Doch was das im Einzelnen heisse, könne man sich auch hier noch nicht so ganz vorstellen. «Allein beispielsweise mit der Verdoppelung des Budgets von ‹Triton› wird die Sicherheit auf See noch nicht gewährleistet.»
Italien hofft, dass Europa auch über einen neuen Verteilschüssel spricht, also wie die Flüchtlinge auf ganz Europa verteilt werden. «Aber da ist man realistisch», sagt Zahn, «soweit wird es heute nicht kommen.»
UNO und Europarat kritisieren EU
Die Vereinten Nationen kritisierten den 10-Punkte-Plan der EU als unzureichend. Die Reaktion der EU müsse über diesen «minimalistischen» Plan hinausgehen, hiess es in einer gemeinsamen Erklärung der UNO-Hochkommissariate für Flüchtlinge und für Menschenrechte in Genf. Zu den Unterzeichnern gehörte auch die Internationale Organisation für Migration (IOM).
Anstatt nur die Ankunft von Flüchtlingen zu regulieren, müsse die EU enger mit Herkunftsländern zusammenarbeiten, um gegen die Ursachen für lebensgefährliche Mittelmeerüberfahrten anzugehen, hiess es.
Auch die parlamentarische Versammlung des Europarates hält den 10-Punkte-Plan der EU für völlig unzureichend. Die kurzfristigen Massnahmen reichten nicht, hiess es in einer Entschliessung, welche die Abgeordneten aus den 47 Europaratsländern in Strassburg verabschiedeten. Die EU-Länder sollten «vordringlich» alternative Migrationswege stärken und die Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen untereinander aufteilen.
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Bild 1 von 19. Seit der Jahrtausendwende spitzt sich die Lage auf dem Mittelmeer zu. 2003 werden auf der italienischen Insel Lampedusa 8000 Bootsflüchtlinge wie dieser völlig entkräftete Mann aus Afrika registriert. Bildquelle: Reuters.
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Bild 2 von 19. Bereits damals kommt es auf der Überfahrt immer wieder zu tödlichen Unfällen. Im Oktober 2003 wird in Rom 13 Somaliern gedacht, die vor Lampedusa ertrunken sind. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 19. 2004 sind es bereits 13'000 Flüchtlinge, die übers Mittelmeer nach Italien gelangen und dort registriert werden. Bildquelle: Reuters.
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Bild 4 von 19. Bereits ein Jahr später werden allein auf Lampedusa über 20'000 Bootsflüchtlinge gezählt. An manchen Tagen erreichen Hunderte auf einmal die Insel. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 19. Italien ist von der grossen Zahl der Flüchtlinge zunehmend überfordert. 2009 brechen die Flüchtlinge das Tor eines Lagers auf Lampedusa auf, um gegen die Zustände dort zu protestieren. Im auf 850 Menschen ausgelegten Lager leben rund 1800 Flüchtlinge. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 19. Im Sommer 2013 gilt die erste Reise des neu gewählten Papstes Franziskus den Flüchtlingen auf Lampedusa. Beim Besuch geisselt er eine «Globalisierung der Gleichgültigkeit»... Bildquelle: Reuters.
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Bild 7 von 19. ... spricht mit Flüchtlingen, die die Überfahrt aus Nordafrika überlebt haben... Bildquelle: Reuters.
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Bild 8 von 19. und gedenkt der Toten. Bildquelle: Reuters.
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Bild 9 von 19. 2011 spitzt sich die Lage weiter zu. Aufgrund der Unruhen im Zuge des Arabischen Frühlings kommen immer mehr Flüchtlinge in Italien an. Das Sterben im Mittelmeer geht weiter. Italien fühlt sich von Europa allein gelassen, die Regierung Berlusconi erklärt den «humanitären Notstand». Bildquelle: Reuters.
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Bild 10 von 19. Eine der bis dahin grössten Flüchtlingstragödien auf dem Mittelmeer spielt sich im Oktober 2013 ab. Ein Schiff mit 545 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea an Bord sinkt, nachdem das Feuer eines Notsignals ausser Kontrolle geraten ist. Lediglich 155 Menschen werden gerettet. Bildquelle: Keystone.
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Bild 11 von 19. Angesichts des nicht abreissenden Flüchtlingsstroms und der vielen Toten startet Italien im Oktober 2013 das Rettungsprogramm «Mare nostrum». Bildquelle: Reuters.
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Bild 12 von 19. Marine, Küstenwache und Luftwaffe sollen Flüchtlingsboote zwischen der afrikanischen Küste und Italien aufspüren und in einen sicheren Hafen geleiten sowie Schlepper verhaften. «Mare nostrum» kostet Italien 9,5 Millionen Euro – pro Monat. Das Programm ist aber erfolgreich. Laut Rechnungen der «NZZ» sterben noch 4 von 1000 Bootsflüchtlingen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 13 von 19. 2014 kommen laut dem UNHCR 170'000 Flüchtlinge in Italien an. Vom Ansturm überfordert, gibt Italien die systematische Erfassung der Ankommenden auf, was diesen die Weiterreise in andere europäische Länder erleichtert. Bildquelle: Reuters.
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Bild 14 von 19. Italien beendet «Mare nostrum» 2014 nach nur einem Jahr. Europäische Politiker hatten kritisiert, das Programm habe als «Tor zu Europa» eine Sogwirkung entwickelt. Die Nachfolgemission «Triton» kostet Italien noch einen Drittel und beschränkt sich hauptsächlich auf die Grenzsicherung. Die Zahl der Flüchtlinge steigt dennoch weiter. Bildquelle: Keystone.
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Bild 15 von 19. 23'000 Flüchtlinge sind laut UNHCR dieses Jahr bereits übers Mittelmeer nach Europa gelangt. Die Hilferufe Italiens verhallen bei den europäischen Partnern dennoch lange ungehört. Bildquelle: Reuters.
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Bild 16 von 19. Rund 3500 Flüchtlinge sind laut UNO-Schätzungen allein 2014 auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken. Heuer ist es mit bisher rund 1600 Todesopfern jeder 50. Flüchtling, der die Fahrt übers Mittelmeer nicht überlebt. Unter den Toten sind auch viele Kinder und Minderjährige, wie hier auf Malta. Bildquelle: Reuters.
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Bild 17 von 19. Die Hilferufe Italiens und der Flüchtlinge finden im restlichen Europa erst Gehör, nachdem beim Unglück von Mitte April rund 850 Menschen im Mittelmeer ertrinken. Am 23. April treffen sich die EU-Staats- und Regierungschefs zu einem Sondergipfel. Dort soll ein Zehnpunkteplan der EU-Kommission verabschiedet werden. Bildquelle: Reuters.
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Bild 18 von 19. Unter steigendem öffentlichem Druck soll der EU-Gipfel unter anderem die Wiederaufnahme der aktiven Seerettung beschliessen. Ausserdem sind die Beschlagnahmung und Zerstörung von Schlepperbooten sowie ein neuer Schlüssel für die Verteilung der Flüchtlinge in Europa geplant ... Bildquelle: Keystone.
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Bild 19 von 19. ... derweil warten in Libyen laut Schätzungen der EU noch rund eine Million Flüchtlinge auf die Überfahrt nach Europa. Bildquelle: Reuters.