Warum ist das Verhältnis 50 Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens immer noch so kompliziert?
Alexander Gschwind: Das hat ganz sicher mit dem Charakter des algerischen Unabhängigkeitskriegs zu tun, der mit einer Million Toten zu den blutigsten des Entkolonialisierungsprozesses im letzten Jahrhundert gehört. Er hat tiefe Risse in beiden Gesellschaften hinterlassen – manchmal quer durch Familien. Beide Seiten haben einander nie verziehen und tragen einander das Blutbad auch nach 50 Jahren noch nach. Versöhnungsversuche sind aus unterschiedlichen Gründen immer wieder gescheitert.
Oft hat man versucht, eine Lösungen zu finden und einen Freundschaftsvertag zu schliessen. Immer wieder ist etwas dazwischengekommen. Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Algerier führen immer ein schlimmes Beispiel an, über das man hierzulande sehr wenig weiss. Es ist eine Klausel im Unabhängigkeitsvertag von Evian. Nachdem Frankreich Algerien 1962 in die Unabhängigkeit entliess, hat es sich vorbehalten, weiterhin in der Sahara Atomtests durchzuführen, ohne die algerische Seite über die Konsequenzen der Testserie voll aufzuklären.
Ehrlich gesagt, waren die jungen algerischen Unabhängigkeitskämpfer in dieser Sache auch nicht kompetent genug, um diese Komplexität zu durchschauen.
Die Atomversuche wurden zu wenig tief unter der Erdoberfläche durchgeführt, was zur Verseuchung ganzer Nomadenstämme geführt hat. Über Generationen kam es zu Verstümmelungen, Missgeburten und Missbildungen, wie man sie von Tschernobyl her in Erinnerung hat.
Frankreich war nie bereit, Entschädigungen zu zahlen. Frankreich hat den Algeriern auch unterschlagen, dass es kurz vor der Unabhängigkeit im Hoggar-Gebiet an der Südgrenze Uran gefunden hatte. Frankreich versuchte, das zu vertuschen, das Uran über private Bergbaufirmen abzubauen und so den algerischen Staat um die Erträge des wertvollen und strategischen Materials zu bringen.
Immer wieder verlangen algerische und französische Politiker, dass Frankreich die in Algerien verübten Verbrechen anerkenne – allen voran der amtierende algerische Präsident Abd al-Aziz Bouteflika.
Das hat mit Bouteflikas Biografie zu tun. Er ist der letzte amtierende Politiker jener Generation, die Algerien in die Unabhängigkeit führte. Als junger Spund mit knapp 20 Jahren wurde er zusammen mit der ganzen Führung der Nationalen Befreiungsfront FLN von der französischen Luftwaffe auf einem Flug zwischen Rabat und Tunis entführt. Er verbracht Jahre im Gefängnis. Er gehörte zu jenen Gefangenen, mit denen Frankreich den Unabhängigkeitsvertrag von Evian aushandelte.
Später wurde Bouteflika zum jüngsten Aussenminister der Welt und musste im Auftrag seines Chefs, Präsidenten Boumedienne, nach Paris reisen, um Präsident Pompidou die für Frankreich schlimme Botschaft zu überbringen, dass Algerien das Erdöl verstaatlicht hatte. Und das soll er in Jeans und einem offenen Hemd getan haben, was den sehr konservativen Pompidou doppelt schockierte. Dafür bekam er zuhause den Übernamen «Little Big Man», weil zu der Zeit in den Kinos der gleichnamige Film mit Dustin Hoffman lief.
Trotzdem sind die beiden Länder wirtschaftlich eng verbunden. Beim jetzigen Staatsbesuch soll diese Zusammenarbeit vertieft werden. In welcher Form?
Man will im industriellen Bereich enger zusammenarbeiten und nennt konkrete Abkommen. Zum Beispiel eine Beteiligung des algerischen Staatsfonds am notleidenden französischen Autokonzern PSA Peugeot Citroën mit mindestens zehn Prozent. Eine Fabrik von Renault soll in Algerien mit 51-prozentiger algerischer Staatsbeteiligung gebaut werden.
Es wird auch in anderen Bereichen intensiv verhandelt. 40 Chefs grosser französischer Firmen begleiten Hollande auf diesem Besuch und erhoffen sich grosse Geschäfte. Dazu haben sie auch allen Grund, sitzt doch Algerien auf einem Erdölschatz von 200 Milliarden Dollar. Den hat es in den letzten Jahren gespart, nachdem Algerien in den 1990er Jahren wegen des tiefen Ölpreises fast bankrott war. Jetzt schwimmt es im Geld und ist sehr interessiert, technologisches und industrielles Know-how zusammenzukaufen. Da passen die französischen Offerten gut hinein.
Neuerdings spricht man sogar von einer militärischen Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten, was bisher ein völliges Tabu gewesen war. Das hat sicherlich mit der Krise im benachbarten Mali zu tun. Beide Seiten machen sich grosse Sorgen, weil sich im Sahel islamistische Fundamentalistengruppen breitmachen. Und diese zählt Algerien seit seinem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren zu seinen Staatsfeinden.