SRF: Der junge Umweltschützer war vor acht Tagen bei einer Protestaktion getötet worden. Seither kommt es landesweit zu Demonstrationen. Weshalb halten sich die Proteste so hartnäckig?
Rudolf Balmer: Der Tod des jungen Mannes hat Frankreich schockiert. Es ist nicht normal, dass ein Demonstrant während einer Protestaktion ums Leben kommt. Es handelte sich bei dem Studenten nicht um einen Randalierer. Die Polizei hatte stets versucht, den Polizeieinsatz gegen die Umweltschützer als verhältnismässig zu rechtfertigen. Am Wochenende wurde nun bestätigt, dass es tatsächlich eine Polizeigranate war, die den jungen Naturschützer tötete. Deswegen sind die Proteste jetzt erst recht wieder aufgeflammt.
Es war also kein tragischer Zwischenfall, sondern die Polizei hat unverhältnismässig auf die Proteste der Umweltschützer reagiert?
Das ist zumindest der Eindruck, den die Freunde des getöteten Studenten haben. Unterdessen geht es nicht mehr nur um das Staudammprojekt, sondern generell um das Verhalten der Polizei. Diese ist ganz offensichtlich mit Waffen ausgerüstet, die offiziell zwar nicht tödlich wirken sollten. Nun hat sich aber das Gegenteil erwiesen.
Wer sind die Demonstranten, die nun weiter protestieren?
Zu den Anhängern der Umweltbewegung sind Linksautonome gestossen. Anarchisten, die sich gegen den französischen Staat wehren oder ihn herausfordern wollen. In der vergangenen Woche war es in rund 20 Städten zu teils sehr gewaltsame Demonstrationen gekommen. Es gab aber auch sehr friedliche Protestaktionen. Darüber wird weniger gesprochen. Nicht alle wollen mit den Linksautonomen, die sich mit der Polizei prügeln, in denselben Topf geworfen werden.
Die Kluft zwischen der sozialistischen Regierung und anderen linken Parteien ist riesig.
Bei den Protesten vor acht Tagen ging es ja um ein Staudammprojekt im südfranzösischen Sivens. Spielt dieses Projekt bei den jetzigen Protesten überhaupt noch eine Rolle?
Bei dem Staudammprojekt handelt es sich um ein kleines, lokales Projekt, das von Anfang an umstritten war: Genützt hätte es nur einigen Maisbauern für die Bewässerung – finanziert aus öffentlicher Hand. Unterdessen steht der geplante Staudamm aber symbolisch für Projekte, bei denen sich Naturschutz und eine bestimmte Vorstellung von Landwirtschaft gegenüber stehen. Deshalb nun auch die landesweiten Proteste.
Sie haben es bereits gesagt: Die Proteste richten sich auch gegen die französische Regierung. Was tut Paris eigentlich, um die Situation in den Griff zu bekommen?
Es ist sehr tragisch, dass die Regierung so lange brauchte, um zu reagieren. Zwar bedauerte sie den Tod des Demonstranten, wollte danach aber einfach zur Tagesordnung übergehen. Jetzt ist das Staudammprojekt in Sivens so gut wie gestorben: Umweltministerin Ségolène Royal sagte, es sei das Ergebnis einer Fehleinschätzung gewesen. Die Ereignisse zeigen, wie gross die Kluft zwischen der sozialistischen Regierung und anderen linken Parteien in Frankreich ist. Vor allem der Graben zu den Grünen und der Umweltbewegung ist enorm gewachsen. Präsident François Hollande hätte sich zur Hälfte seiner Amtszeit wohl nichts Schlimmeres als die aktuelle Situation vorstellen können.
Sie haben gesagt, das Projekt ist so gut wie begraben. Was denken Sie, werden die Proteste dennoch weitergehen?
Es ist natürlich nicht nur eine menschliche Tragödie, wenn ein Demonstrant stirbt. Sondern es wird ein Problem für die Staatsführung. Sie muss Garantien geben, dass Konflikte in Frankreich auf eine andere Art und Weise ausgetragen werden.