Die brasilianische Regierung und die WM-Veranstalter haben mit leeren Versprechungen und Korruption aus dem sprichwörtlichen Fussball-Fieber des Volkes eine ernsthafte virale Verstimmung gemacht.
Volle Taschen für die Reichen
Verschiedene Umfragen haben in den letzten Wochen die Aussicht auf eine gewohnt ausgeprägte Fussball-Euphorie im Austragungsland Brasilien getrübt. Auch wenn die Zahlen mit zunehmender Nähe zum Auftaktspiel besser wurden, noch immer ist fast die Hälfte aller Brasilianer nicht gut auf das Fussballfest zu sprechen. Für Kenner des Landes ist dieser Verdruss keine Überraschung.
Sorgen und enttäuschte Hoffnungen prägen den Alltag vieler Brasilianer. Statt zu profitieren, bezahlen sie das teuerste Turnier aller Zeiten mit ihren Steuergeldern. Die satten Gewinne aus Stadionbau, Marketing und TV-Rechten beulen die Taschen der Fifa und der Wirtschaftselite aus.
Fussball ist heute Hochfinanz.
Die Versprechungen der Regierung entpuppen sich als leeres Gerede. Der öffentliche Transport und das Strassennetz, das Bildungs- und Gesundheitswesen liegen weiter im Argen. Ausserdem hat der Weltfussballverband international für Empörung gesorgt, weil er die Strassenhändler von den Stadien vertreibt und so tausende ihrer Existenzgrundlage beraubt. Angeblich wollen die Sponsoren das so.
Bei einem Sieg der Fussballnationalmannschaft könnte das Land kurzfristig in einen Freudentaumel stürzen und neue Hoffnung schöpfen. Aber nicht auszudenken, was passiert, sollte die «Seleção» sportlich scheitern und Brasilien in eine nationale Depression stürzen. Auch dieses Szenario hat prominente Vertreter.
Einer von ihnen ist Ratinho. Der brasilianische Ex-Fussballprofi und SRF-Experte für alle Brasilien-Spiele ist davon überzeugt, dass diese WM so oder so ihre Spuren hinterlassen wird. «Für einen Moment ist alles schön und gut. Wenn alles vorbei ist, bleibt jedoch die Misere zurück.» Mit dieser Haltung diskutiert Ratinho in der SRF-Gesprächssendung «Club» mit weiteren Kennern Brasiliens.
Zum Beispiel mit Esther Maurer. Dezidierte Fifa-Kritikerin und Geschäftsleiterin von Solidar Suisse. Für sie ist die Kritik der Welt nichts Neues. «Im Vorfeld aller Sport-Mega-Events werden Schwachpunkte offen gelegt», sagt die ehemalige Zürcher SP-Stadträtin. «Gehen die Spiele erst los, ist die Kritik wieder vergessen.» Maurer fordert darum für die Vergabe solcher Events einen Nachhaltigkeits-Nachweis.
Spannende Links zur Sendung
- SRF «Club» mit den Gästen und ihren Positionen
- Thematische Suchmaschine zum Thema Brasilien-Probleme
- Fakten zu Brasilien (gesammelt vom Hilfswerk Misereor (pdf))
- FIFA-Protest-Kampagne der Solidar Suisse
- Studien zu den Folgen der Fussball-WM 2006
- Aufsatz: Olympische Spiele u. Politik von Dr. Sven Güldenpfennig
Ein nobles Ansinnen, das möglicherweise Wunschdenken bleibt. Fussball habe nämlich heute gar nichts mehr mit Sport zu tun, sagt René C. Jäggi, ehemaliger FC-Basel- und 1. FC-Kaiserslautern-Präsident in der Sendung «Club». «Fussball ist heute Hochfinanz.» Die Sportlichkeit bleibe bei den Milliarden-Summen auf der Strecke.
Anklage gegen die Polemik
Nicht ganz so drastisch sieht das die brasilianische Journalistin und Aktivistin Cejana Guimaraes. Sie identifiziert auch einen gewaltigen sozialen Wandel im Land. Eine starke Mittelklasse wachse heran. Bildung für alle mache grosse Fortschritte, heute würden oft auch Kinder aus bescheidenen Verhältnissen studieren. «Dass die Fifa die Strassenhändler verjagt, gefällt mir auch nicht. Doch mir passt auch die politische Polemik um dieses Randproblem nicht.»
So gegensätzlich sich Brasilien in seinem Aufbruch zur Grossmacht zeigt, so unterschiedlich sind die Prognosen zu den Folgen des Turniers. Am Dienstagabend im «Club» bietet Karin Frei Einblicke in die Ansichten der «brasilianischen Volksseele». Ganz kurz vor der Meisterschaft.
Brasilien im Radio SRF2
Reportage aus Rio de Janeiro: Das Stadion Maracanâ als Sinnbild für die Zerrissenheit Brasiliens.