Die Krise hat Ägypten vereinfacht gesagt in zwei Lager gespalten. In ein Pro-Mursi- und ein Pro-Sisi-Lager. Der jetzige Armeechef General Abdel Fattah al-Sisi wird seit der Absetzung Mursis zum Volkshelden hochstilisiert. Wer sich öffentlich gegen Sisi oder die Interimsregierung auflehnt, läuft Gefahr, festgenommen zu werden.
Coup-Gegner auf Infotour in der Schweiz
Auch Hatem Azzam, ein Gegner der Absetzung Mursis, kann nicht mehr zurück nach Kairo. SRF News Online hat den früheren ägyptischen Parlamentarier an einem Forum in Zürich getroffen. «Ich darf nicht zurück wegen eines Interviews. Man beschuldigt mich, gegen Armee und Polizei aufzuhetzen, weil ich gegen die vom Militär kontrollierte Übergangsregierung bin.» Azzam muss nach seinem einwöchigen Besuch in der Schweiz nach Katar fliegen, in seine vorübergehende Heimat.
Azzam war während Mursis Regentschaft Sekretär des Energieministeriums. Ins Parlament kam Azzam durch eine Allianz seiner Partei Al-Wasat mit der Muslimbruderschaft. Formell ist er kein Muslimbruder. Aber die Sympathie zu ihnen sei bekannt, sagt die säkulare Politikerin Nirvana Shawky zu SRF News Online. Nicht nur Azzam sympathisiere mit den Islamisten, sondern seine ganze sechsköpfige ägyptischen Delegation.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Während einer Woche in der Schweiz und weiteren Aufenthalten in anderen europäischen Ländern tritt die Delegation als Vertreter der Anti-Coup-Bewegung auf. Als Verteidiger der Demokratie. Die Redner wollen klar machen, dass der Demokratie-Vorgang in Ägypten gewaltsam unterbrochen worden sei durch den Putsch. Sie rufen die Welt dazu auf, die Gewalt durch das Militär zu verurteilen.
Shawky ärgert sich über den Auftritt der Delegation: «Sie geben sich als demokratische Stimmen aus. Dabei war Mursi alles andere als ein Demokrat.» Sie macht den autokratischen Führungsstil für die Misere im Land verantwortlich.
Azzam freilich behauptet das Gegenteil: Er ärgert sich über Leute wie Shawky. «Leute, die mit uns die Revolution durchgemacht haben, kehrten uns anschliessend den Rücken. Sie taten sich mit der Armee zusammen. Nur weil sie die Muslimbruderschaft verachten und das Resultat der Wahl nicht anerkannt hatten.»
Zwei Aussagen, die diametral auseinander gehen: Laut Azzam war Mursis Fehler, dass er nicht radikal genug versucht hatte, die alte Garde auszuschalten. Stattdessen habe er versucht, alle Seiten miteinzubeziehen – so auch die gängige Meinung von offizieller Seite der Muslimbrüder. Shawky ihrerseits beschuldigt Mursi, er habe sich und der Muslimbruderschaft die Macht sichern wollen und die anderen Parteien ausgeschlossen.
Prozess gegen Mursi
SRF-Korrespondent Pascal Weber in Kairo beobachtete, dass Mursi zwar die Leute an den Tisch geholt, ihnen aber nicht zugehört hätte. Auch unter dem Muslimbruder habe es Gewalt gegeben, die er nicht gestoppt hätte.
Deswegen soll Mursi vor Gericht gestellt werden. Ihm wird Anstachelung zur Gewalt vorgeworfen, während Protesten gegen die Ausweitung seiner Machtbefugnisse im Dezember vor einem Jahr. Damals kamen rund ein Dutzend Menschen ums Leben. «Mursi war alles andere als ein Demokrat. Sein grösstes Talent war es, sich jeden Tag einen neuen Feind zu machen.»
Armee will rigides Demonstrationsverbot einführen
Die beiden Politiker, Shawky und Azzam, könnten die gespaltene Gesellschaft Ägyptens repräsentieren – wäre die Situation nicht noch komplexer. Bis vor drei Wochen hätte Korrespondent Pascal Weber unterschrieben, dass sich «nur» zwei Seiten bekämpfen. Pro-Mursi gegen Pro-Sisi. Doch nun hat General Sisi plötzlich andere, weiter Absichten.
Er liess vor ein paar Wochen in einem Interview durchblicken, dass er sich als Präsidentschaftskandidat aufstellen lassen könnte. Aber noch mehr wachgerüttelt habe die Mursi-Gegner ein neues Demonstrationsgesetz, das die Übergangsregierung einführen wolle, erklärt Weber. Dieses wäre noch rigider als jenes, das unter dem früheren Herrscher Mubarak galt oder jenes, das Mursi einführen wollte.
Bei vielen Ägyptern, die anfänglich für die Absetzung Mursis waren, läuten nun die Alarmglocken. Es gehe nicht nur darum, Demonstrationen der Muslimbrüder und damit den Terror in Schach zu halten. Teile des alten Regimes, die jetzt in der Regierung vertreten seien, versuchten damit auch Demonstrationen der Revolutionären zu unterbinden. «Es formiert sich Widerstand gegen das Demonstrationsgesetz. Und dieser wächst. Das Militär musste bereits zurückkrebsen», weiss der Korrespondent.