George Sakheim sitzt im Gerichtssaal, in dem er als 22-Jähriger letztmals war. Er schaut sich neugierig um. Schwer fällt es ihm nicht, wieder hier zu sein. Er zeigt historische Fotos, die er damals von einem Fotografen der russischen Nachrichtenagentur TASS erhalten hat. Der Fotograf wollte kein Geld dafür, nur ein paar Seidenstrümpfe für seine Freundin.
Er erzählt, wie er als gebürtiger Hamburger in die USA ging, und von dort als US-Soldat in den Krieg nach Deutschland geschickt wurde. Seine Aufgabe: deutsche Kriegsgefangene befragen und unter anderem herausfinden, wo ihre Minenfelder waren. In Paris sah er zufällig ein Plakat, auf dem Übersetzer für die Nürnberger Prozesse gesucht wurden. Er meldete sich sofort und bekam den Job.
«Sagen Sie dem Herrn Oberst, dass Sie keine Ahnung haben!»
Die Nürnberger Prozesse waren die Geburtsstunde des modernen Dolmetschens. Hier wurde zum ersten Mal simultan übersetzt, und da lief nicht alles immer ganz reibungslos. Sakheim erinnert sich an eine Befragung des angeklagten Reichswirtschaftsministers Walther Funk, der sich aufregte, weil der junge Übersetzer nicht alles verstand. «Sagen Sie dem Herrn Oberst, dass Sie keine Ahung haben, wovon Sie sprechen!» habe er ihn angefahren, und es sei ihm peinlich gewesen.
Sakheim war nicht oft im Gerichtssaal, er übersetzte vor allem bei den Befragungen von Zeugen und Angeklagten, von Deutsch auf Englisch. Noch heute findet er es unglaublich, dass die Angeklagten von nichts gewusst haben wollten. Zum Beispiel Ernst Kaltenbrunner, zuerst Führer der SS in Österreich, stieg zum Nachfolger Heinrich Himmlers auf als Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, später Leiter des berüchtigten Gestapo-Amtes RSHA und damit für die Ermordung von mindestens eine Million Menschen verantwortlich.
Und der Kaltenbrunner hat so getan, als ob er von nichts was wüsste.
Die Prozesse, die am 20. November 1945 begannen und fast ein Jahr dauerten, stiessen auf grosses Interesse. Der Gerichtssaal sei voll gewesen, von Publikum und Journalisten. Und es gab besonders erschütternde Momente. Zum Beispiel, als Filme von den Konzentrationslagern gezeigt wurden, in denen Ärzte die Menschen in zwei Gruppen aufteilten: in Arbeitsfähige und in solche, die gleich in die Gaskammern geschickt wurden. Da hätten viele im Saal geweint, und die Angeklagten hätten weggeschaut.
Während und nach dem Prozess habe er Hass empfunden, gibt der 92-Jährige zu. Aber gegenüber dem deutschem Volk hege er heute keine negativen Gefühle. Was ihn aber bis heute beschäftige sei: wie man ein solcher Mensch werde, wie es die Angeklagten von damals gewesen seien. Er habe manchmal kaum glauben können, was sie alles Schreckliches getan hätten.