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International Griechen zwischen Hoffen und Bangen

Die Nervosität der Griechen vor dem drohenden «Grexit» ist spürbar gewachsen. Das zeigen die hohen Geldbezüge bei den Banken der letzten Tage. Weiterhin trauen aber viele Menschen den Hardlinern der Regierung Tsipras den Bruch mit Europa nicht wirklich zu, wie Journalistin Corinna Jessen berichtet.

Die Euro-Finanzminister sind bei der Lösung der Griechenland-Krise noch keinen Schritt weiter. Jetzt wollen die EU-Staats- und Regierungschefs an einem Sondergipfel am Montagabend einen Ausweg aus dem Schuldenstreit finden. Journalistin Corinna Jessen in Athen beobachtet eine steigende Nervosität in der Bevölkerung.

SRF News: Wieder ist also ein Krisentreffen gescheitert. Wie reagiert die griechische Öffentlichkeit darauf?

Corinna Jessen: Die Bevölkerung war insofern darauf vorbereit, als die Regierung seit einigen Tagen die Drohkulisse des «grossen Neins» aufbaut. Dass diese Drohung die Kreditgeber wohl nicht mehr zum Einlenken bringt, kommt in der griechischen Öffentlichkeit allmählich an, auch wenn auf den ersten Blick eine angespannte Gelassenheit herrscht. Doch die Nervosität bei den Menschen steigt spürbar.

Wie stark stützen die Griechinnen und Griechen den Verhandlungskurs der Regierung noch?

Es zeichnet sich eine Spaltung ab: Die Regierungsparteien, also die Anhänger von Syriza und die Unabhängigen Griechen, haben eine Kampagne unter dem Motto «Keinen Schritt zurück» gestartet. Mitte Woche gab es vor dem Parlament eine Kundgebung mit der Forderung, die Regierung solle nicht einlenken. Die Menschen, mit denen ich sprach, halten einen Bruch mit Europa nicht für schlimmer als ein weiteres Sparpaket. Doch die meisten von ihnen würden eine Einigung in ihrem Sinne nach wie vor einem Austritt aus dem Euro vorziehen.

Demonstration in Athen.
Legende: Vor allem Vertreter der Privatwirtschaft demonstrierten gestern in Athen für den Verbleib in der Eurozone. Keystone/Archiv

Mindestens ebenso viele demonstrierten gestern für einen Verbleib im Euro und würden jedes Sparpaket vorziehen. Sie kommen grösstenteils aus der Privatwirtschaft und fühlen sich von der jetzigen Regierung besonders vernachlässigt.

Sie befürchten, dass ein Austritt für die Griechen viel schlimmere Folgen hätte als jedes Sparpaket. Die Vertreter dieser Meinung kommen zu einem ganz grossen Teil aus der Privatwirtschaft. Sie fühlen sich von der jetzigen Regierung besonders vernachlässigt, die bei den Verhandlungen mit Brüssel hauptsächlich die Gehälter und Renten der Staatsangestellten im Blick hat.

Eurogruppenchef Dijesselbloem hat Griechenland aufgefordert, weitere Vorschläge zu bringen. Wird das passieren?

Nein. Athen stellt sich offiziell auf den Standpunkt, die Vorschläge geliefert zu haben, um nun auf Gegenvorschläge aus Brüssel zu warten. Finanzminister Varoufakis hat gestern Abend in Luxemburg ja die ganze Liste der eingebrachten Reformen verlesen.

Entscheidend wird möglicherweise die Frage sein, ob Athen eine Erleichterung der Schuldenlast zumindest in irgendeiner lockeren Form in Aussicht gestellt wird.
Autor: Corinna Jessen Journalistin, Athen

Darunter ist auch der Wille, Rentenkassen zusammenzulegen und Frührenten abzuschaffen. Einer weiteren Rentenkürzung will Athen aber keinesfalls zustimmen, was übrigens sozial kaum vertretbar wäre. Allerdings will die Regierung auch die dringend nötige strukturelle Rentenreform auf die lange Bank schieben. Weitere Knackpunkte sind die Festlegung des zu erzielenden Primärüberschusses, der Abbau des Arbeitnehmerschutzes und höhere Mehrwertsteuersätze. Eigentlich sind aber die Differenzen gar nicht mehr so gross.

Aus Kreisen der Europäischen Zentralbank verlautete gestern, es sei nicht sicher, dass die griechischen Banken am Montag wieder öffnen könnten. Was würde das bedeuten?

Gestern haben die Griechen eine Milliarde Euro an einem Tag abgehoben. Seit Anfang der Woche sind es fast drei Milliarden. Das zeigt die Nervosität und auch die klamme Lage der Banken. Es gibt Gerüchte, dass die Banken noch einmal durch Sonderzahlungen des EZB-Notfonds gestützt werden sollen, auch wenn das die zuständigen Stellen zurzeit noch dementieren.

Corinna Jessen

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Corinna Jessen bei TV-Schaltung nach Athen mit Mikrofon.

Corinna Jessen ist freie Journalistin in Athen, Korrespondentin für mehrere deutschsprachige Tageszeitungen und Mitarbeiterin des ZDF. Sie ist in Athen geboren und aufgewachsen. Studiert hat sie in Deutschland.

Das würde zumindest Kapitalverkehrskontrollen bedeuten: Geld abheben nach Wahl und Überweisungen ins Ausland würden beschränkt. Trotzdem erklärt die Regierung ungerührt, das werde es nicht geben. Wer das verbreite, spiele nur den Kreditgebern in die Hände, die Athen mit den Liquiditätsproblemen erpressten. Allerdings wird diese Regierungspropaganda allmählich zum Bumerang. Denn sie zeigt, dass Athens Haltung, bis zum Äussersten gehen zu wollen, nicht sehr realistisch und ein für das Land extrem gefährlicher Poker ist.

Tsipras trifft heute den russischen Präsidenten Putin. Rechnet der Grieche tatsächlich mit substanzieller Unterstützung aus Moskau?

Nein, damit kann er nicht rechnen und damit rechnet auch niemand in Griechenland. Aber auch das ist Teil des Pokerspiels – eine Geste, die zeigen soll, dass man noch andere Freunde hat. Auch wissen Tsipras und seine Regierung sehr genau, dass die Griechen westlich orientiert sind, sich als Europäer fühlen und den Euro halten wollen.

Einen Austritt mit unabsehbaren Folgen kann Tsipras also nach wie vor nicht wollen. Viele Griechen nehmen seinen Hardlinern die Bereitschaft zum Bruch nicht wirklich ab. Wenn Tsipras aus Brüssel etwas mit nach Hause bringen kann, was sein Gesicht wahrt, wird er den Vorschlag der Kreditgeber unterschreiben und sich als Retter feiern lassen. Dies könnte etwa eine Formulierung sein, die die weitere Schuldenerleichterung zumindest möglich macht.

Das Interview führte Tina Herren.

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