Physische Gewalt gegen Flüchtlinge und Migranten gibt es in Italien wenig. Aber ein verbaler und symbolischer Rassismus ist im Alltag weit verbreitet – bei Sportveranstaltungen, auf Wahlplakaten, in Boulevardmedien oder bei politischen Veranstaltungen. Deutlich zeigt sich der alltägliche Rassismus im Fussball. Affengeräusche, Bananenwerfen und Fascho-Symbole sind in den Fankurven vieler italienischer Clubs an der Tagesordnung. Die Zusammenhänge erläutert SRF-Italien-Korrespondent Franco Battel.
SRF News: Dunkelhäutige Spieler sagen, in der italienischen Liga seien sie zum Teil starken rassistischen Attacken ausgesetzt. Fussball ist auch für die Sozialisation der Jugend wichtig. Warum setzt Italien da nicht besonders scharf an?
Franco Battel: Das hat mit der Geschichte Italiens zu tun. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Prozess, wie etwa der Nürnberger Prozess, in dem Nationalsozialisten verurteilt wurden. Es gibt in Italien zwar viele Gesetze, die den Rassenhass unter Strafe stellen. Doch die entscheidende Frage ist, wie diese Gesetze angewendet werden. Deutschland und andere europäische Länder sanktionieren rassistische Aussagen mit Gesetzen. In Italien wurden dafür nie Leute zu Rechenschaft gezogen und verurteilt. Anders als Deutschland hat Italien nie rote Linien definiert, was punkto Äusserung zu Hautfarbe zulässig ist und was nicht. Das wiederum hängt damit zusammen, dass in Italien neben den Gesetzen nicht auch gleichzeitig gesellschaftliche Normen etabliert wurden, die klar und eindeutig rassistische Aussagen im Alltag sanktionieren würden.
In italienischen Geschichtsbüchern wird die die Schuld am Zweiten Weltkrieg pauschal den Deutschen zugeschrieben.
Ist es ein Problem, dass rassistisch bedingte Verbrechen mit Minderheiten wie der jüdischen Bevölkerung bis heute verharmlost und verdreht werden?
Ja. In italienischen Geschichtsbüchern wird die Schuld am Zweiten Weltkrieg pauschal den Deutschen zugeschrieben. Auch das lässt sich wiederum, zumindest teilweise, historisch erklären. Deutschland wurde ausschliesslich von den Alliierten befreit. In Italien hingegen gab es einen bedeutenden Widerstand, der sich in manchen Städten selber von den Nationalsozialisten befreite. Das wird bis heute verherrlicht und dient als Vorwand dafür, zu sagen, man habe den Faschismus bekämpft. So hat man sich aus der Täterrolle geschlichen. Das hat auch dazu geführt, dass man sich nach dem Zweiten Weltkrieg viel zu wenig mit der eigenen Schuld auseinandergesetzt hat.
Ist eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte in Italien denkbar?
Zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Es hat keine politische Priorität und es gibt keinen Vorstoss dazu. Andere Themen stehen im Vordergrund. Dazu kommt, dass die Generation, die den Faschismus selber erlebt hat, langsam wegstirbt. Es gibt kaum noch Zeitzeugen. Das Thema gerät aus rein biologischen Gründen in den Hintergrund und in die Vergessenheit. Man kennt Faschismus nur noch aus Geschichtsbüchern, und dort drin sind, wie gesagt, die Deutschen die Alleinschuldigen.
Angesichts der grossen Flüchtlingsströme ist Italien unter Druck. Das Land ist heute aber nicht nur ein Transitland für Migranten, sondern wird zunehmend auch zu ihrer Heimat. Wie weit ist die Idee einer multikulturellen Gesellschaft im Land?
Italien ist in vielen Bereichen bereits eine multikulturelle Gesellschaft. Einfach weil viele Afrikaner in italienischen Städten leben. Es gibt gerade in Süditalien Städtchen, in denen die Hälfte der Bevölkerung schwarz ist. Meistens handelt es sich um Erntehelfer. Das Zusammenleben funktioniert relativ gut, wenn man die schwierige Situation für beide Seiten betrachtet.
Italien muss aktiv etwas für die Integration der Migranten tun. Es muss dafür sorgen, dass diese Leute nicht in einer Parallelgesellschaft leben.
Trotzdem, wenn man die rassistischen Attacken anschaut, etwa auf die erste farbige Ministerin oder die ungestraften verbalen Exzesse im Internet und in Fussballstadien bleibt die Frage, wie Italien mit der zunehmenden Zahl von Migranten umgehen will?
Viel wird davon abhängen, ob und wie man diese Migranten langfristig in die Gesellschaft integrieren kann. Ob die Kinder hier zur Schule gehen können. Es ist momentan zu früh, um zu sagen, wie es in 20 Jahren aussehen wird. Italien muss aktiv etwas für die Integration der Migranten tun. Es muss dafür sorgen, dass diese Leute nicht in einer Parallelgesellschaft leben. Dazu gehört eben auch, diese vorher angesprochenen roten Linien zu definieren.
Das Gespräch führte Marlen Oehler.