Am 14. Januar 2011 waren die Revolutionäre in Tunesien am Ziel: Präsident Ben Ali trat zurück. Als erstes Land im arabischen Raum hatte das Volk den verhassten Diktator vertrieben – mehrheitlich friedlich. Es war die Geburtsstunde des «arabischen Frühlings».
Im Herbst 2011 wurde in Tunesien eine verfassungsgebende Versammlung aus der Taufe gehoben. Und eine gemässigte islamistische Übergangsregierung übernahm die Schalthebel der Macht. Seither wird an einer neuen Verfassung gefeilt.
Neue Verhandlungen zwischen der islamistischen Regierung in Tunesien und der Opposition scheinen näher zu rücken. Rachid Ghannouchi, Chef der regierenden Ennahda-Partei, akzeptierte grundsätzlich den Vorschlag der Gewerkschaften, einen Dialog mit der Opposition zu beginnen.
SRF News Online: Die Ankündigung Ghannouchis kommt überraschend. Ist die Krise überwunden?
Beat Stauffer: Nein, das Ringen um eine Lösung geht weiter. Die Ennahda hat zwar die Vorschläge der Gewerkschaft akzeptiert. Die Parteileitung ist mittlerweile aber wieder zurückgekrebst – auf Druck der radikalen Kräfte. Vorgesehen war die Bildung einer neuen Expertenregierung. Nun wird über Spitzfindigkeiten gestritten. Ennahda hat offenbar die Abmachung anders verstanden als der Präsident der Gewerkschaft.
Also ein Missverständnis?
Die Opposition sieht im Lavieren von Ennahda einen neuen Versuch, auf Zeit zu spielen. Der Vorwurf: Die Partei wolle mit der Verhandlungsbereitschaft die bevorstehenden Protestveranstaltungen gegen die Regierung schwächen.
Warum bleibt der Protest im Gegensatz zu anderen Ländern wie Ägypten und Syrien friedlich, zumindest bisher?
Tunesien liegt wahrscheinlich mentalitätsmässig näher beim Westen als andere Staaten im arabischen Raum. Das Land verfügt über eine gut gebildete Mittelschicht. Hinzu kommt eine Kultur des Konsens. Es heisst immer wieder: Tunesien ist ein sehr friedliches Land. Man versucht auch im privaten Rahmen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Und islamistische Organisationen haben ein kleineres Gewicht.
Haben die neusten Entwicklungen in Ägypten also keine Auswirkungen auf Tunesien?
In Tunesien ist der Konflikt zwischen säkularen und islamistischen Kräften schärfer geworden.Ennahda steht mit dem Rücken zur Wand und ist entsprechend nervös. Ein Militärputsch ist allerdings nicht zu befürchten.
Generell betrachtet: Woran leidet Tunesien?
Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Sie ist seit dem Sturz von Diktator Ben Ali gestiegen. Und auch die Lebenshaltungskosten sind nach oben geklettert. Teilweise funktionieren die Ämter auf kommunaler Ebene nicht, wie beispielsweise die Abfallentsorgung. Und der Verkehr wird behindert durch Demonstrationen, Blockaden und Sit-Ins. Kurz: Das Leben ist seit dem Umsturz schwieriger geworden.
Was hat die Bevölkerung denn erwartet?
Die Menschen hatten die Vorstellung, dass die Revolution ihnen ein besseres Leben bringt. Doch das ist bis jetzt nicht passiert. Die Bevölkerung konnte die «Revolutionsdividende» nicht einlösen. Der Umsturz hat sehr viele soziale Konflikte an die Oberfläche gebracht. Nun fordern die Menschen etwas. Allerdings: Der Staat kann diese Forderungen und Erwartungen zurzeit nicht erfüllen.
Es gärt also in Tunesien.
Die Wut der Bevölkerung ist greifbar. Es besteht die Gefahr, dass Menschen zum Faustrecht greifen und sich blinde Wut entlädt. Bereits sind mehrfach Parteibüros von Ennahda und auch staatliche Gebäude angezündet und demoliert worden. Es braucht jetzt nur noch einen Funken, damit es auch zu einer «Explosion» kommt wie in anderen arabischen Ländern.
Also ein Bürgerkrieg?
Auch Tunesien ist nicht geschützt vor einer chaotischen Lage. Im schlimmsten Fall könnte es blutig werden – auch wenn ich nicht denke, dass es zu einem Bürgerkrieg kommt.
Was ist die grösste Gefahr?
Wenn jetzt Politiker wochenlang keine Lösung finden, könnten unkontrollierbare Gruppen zur Tat schreiten. Aber auch populistische Politiker könnten die Bevölkerung zu Racheakten und Selbstjustiz aufstacheln.
Die Ennahda war unfähig, die Lage der Bevölkerung zu verbessern. Frage zum Schluss: Gibt es denn überhaupt Alternativen?
In den letzten paar Monaten hat sich die sehr stark zersplitterte säkulare Opposition geeinigt. Es sind mehrere Allianzen entstanden. Im Moment sieht es danach aus, dass dies funktionieren könnte. Allerdings: Die Nagelprobe kommt noch. Mehrere Parteien haben sich unter dem Druck dieser Situation zusammengeschlossen. Ob sich die Opposition wieder zerstreiten würde, wenn sie an die Macht käme, ist offen.