Gurgaon
Acht gewaltige Generatoren heulen im Maschinenraum in einem Call Center in Gurgaon. Das ist das Reich von Saurabh Saxena. Er kontrolliert die Generatoren und andere Maschinen über eine digitale Kontrolltafel. «Strom ist ein grosses Problem in Gurgaon», erklärt Saxena. Im Sommer falle er täglich 8 bis 10 Mal aus, im Winter etwas weniger. «Dann springen unsere Generatoren ein. Bei Temperaturen von bis zu 48 Grad fressen die Klimaanlagen am meisten Strom.»
Strom, den die Regierung nur ungenügend liefert, genauso wie öffentliche Transportmittel oder eine funktionierende Kanalisation. Denn Gurgaons Bevölkerungszahl ist in den letzten 25 Jahren von ein paar Tausend auf 2.5 Millionen regelrecht explodiert.
Ein paar Stockwerke über dem Generatorenraum liegt Sanjit Singh Bals Büro. Er leitet die gesamte Logistik für das amerikanische Unternehmen, eines der grössten Call Center weltweit, das in Gurgaon 6000 Leute beschäftigt. Die Infrastruktur bringe ihn immer wieder zur Verzweiflung, sagt Singh Bal: «Der Verkehr ist das grösste Problem für uns. Es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel, so dass ich die Mitarbeiter täglich mit 700 Taxis von ihrem Wohnort hierher und zurück fahren lassen muss. Das macht pro Jahr vier Reisen zum Mond und zurück.» Wenn es regne, brauche man ein Boot, weil alle Strassen überflutet seien. Es gab und gebe keine Stadtplanung. «Die Regierung hat komplett versagt,» zieht Bal die vernichtende Bilanz.
«Masterplan für 2031»
Im Verwaltungsgebäude der Stadt türmen sich Aktenmappen in meterhohen Papierstapeln. Satya Prakash, einer der höchsten Regierungsbeamten, gibt sich zuversichtlich und spricht von einem Masterplan für die Zukunft. «Wir haben einen Masterplan für 2031, weil wir dachten, es sei besser für die Zukunft zu planen», erklärt Prakash. Vorgesehen sei ein Bussystem wie jenes in New York oder New Jersey. Dafür bräuchte die Stadt mindestens 300 Busse. Prakash hofft, sie bekämen diese in den nächsten paar Monaten.
Bis dahin setzt der Regierungsbeamte vor allem auf eine Zusammenarbeit des öffentlichen Dienstes und den Firmen. Firmen aber setzen auf andere Unternehmen. Jones Lang LaSalle, kurz JLL, heisst das amerikanische Immobiliendienstleistungsunternehmen, das in Indien für mehr als 150 Firmen den Transport der Mitarbeiter organisiert, ihre Cafeterien betreibt und garantiert, dass Klimaanlagen und Lüftungen funktionieren. Das staatliche Versagen hat ihr Geschäft beflügelt.
Moderne und Chaos
JLL-Indien-Chef Sandeep Sethi spricht von phänomenalen Wachstumszahlen, 30 Prozent jährlich. Outsourcing im Immobiliensektor sei – nicht wie beispielsweise die IT-Industrie – ein ziemlich neues Geschäft in Indien. Bislang arbeite JLL vor allem für multinationale Firmen. Das Problem sei, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Das klingt ironisch in einem Land mit 1.2 Milliarden Menschen. Die Schwierigkeit ist jedoch, dass viele Inder nicht oder kaum ausgebildet sind.
Das, die schlechte Infrastruktur und die grossen bürokratischen Hürden sind weiterhin eine Hemmschwelle für viele ausländische Firmen in Indien zu geschäften. Das dämpft zwar den Profit, aber das Geschäft bleibt gut. Trotzdem ist Gurgaon heute ein Symbol für die Entwicklung Indiens – den Wirtschaftsboom, das Nebeneinander von Moderne und Chaos.
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Bild 1 von 8. 1991 kam die wirtschaftliche Wende. Das ehemalige Bauerndorf profitierte vom Bauboom. Bezeichnend für den Aufschwung ist der Bau der Gurgaon Metro vor wenigen Jahren. Gurgaon besteht aus privat finanzierten «Inseln». Selbst die Metro und Autobahn entstanden in öffentlich-privaten Partnerschaften. Bildquelle: SRF/Karin Wenger.
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Bild 2 von 8. Wo es früher einmal Kornfelder gab, steht heute die luxuriöse Wohnsiedlung «World Spa». Bildquelle: SRF/Karin Wenger.
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Bild 3 von 8. Im World Spa finden sich perfekt gepflegte Rasenflächen und grosszügige Blumenbeete – bewässert durch das Abwasser der Wohnungen. Die Wohnungsbesitzer haben zudem aus eigener Initiative Wasserreservoire gebaut. Sie finanzieren ihre ökofreundliche Wohlstandsinsel selbst – weil sie es sich leisten können. Bildquelle: SRF/Karin Wenger.
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Bild 4 von 8. Doch Indien bleibt ein tief gespaltenes und kontrastreiches Land: Hier der öffentliche, vernachlässigte, da der private, gepflegte Raum. Auch in Gurgaon leben Tausende ohne ein sicheres Dach über dem Kopf – sie betteln oder lassen für ein paar Rupien ihre Affen tanzen. Bildquelle: SRF/Karin Wenger.
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Bild 5 von 8. Viele Familien sind vom Dorf in die Stadt gezogen und in Slums gestrandet. Dort leben sie unter Plastikplanen, einige auf Abfallhalden. Bildquelle: SRF/Karin Wenger.
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Bild 6 von 8. Fast 200 Millionen Inderinnen und Inder, ein Sechstel der Bevölkerung, sind Migranten im eigenen Land. Der Sog der Städte wie Gurgaon ist stark. Hier hoffen die Arbeiter, dank ihrem Fleiss zu Wohlstand und einem besseren Leben zu kommen. Bildquelle: SRF/Karin Wenger.
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Bild 7 von 8. Weitere Kehrseite des wirtschaftlichen Aufschwungs: die Luftverschmutzung. Im Winter liegt die Feinstaubbelastung in Gurgaon bei Werten, die stark gesundheitsschädigend sind. Bildquelle: SRF/Karin Wenger.
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Bild 8 von 8. Bei Regen sind die dicht befahrenen Strassen in Gurgaon oft überflutet. Im Zuge des Baubooms ist eine nachhaltige Stadtplanung auf der Strecke geblieben. Das Grundwasser wird zudem aufgrund von Übernutzung knapp: Bis 2030 werde es aufgebraucht sein, warnen Experten. Doch das bremst das Wachstum bislang nicht – unaufhörlich wächst die Stadt weiter. Bildquelle: SRF/Karin Wenger.