Zwei Minuten lang heulten am Vormittag in Israel die Sirenen. Auf den Strassen blieben die Autos stehen und Passanten verharrten in stillem Gedenken an sechs Millionen Juden, die während des Holocaust ermordet wurden. Auch an Arbeitsplätzen, in Schulen und Universitäten ruhte jeglicher Betrieb.
Viele Schoah-Überlebende leben in Armut
Staatschef Reuven Rivlin rückte bei der zentralen Gedenkfeier in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem die schwierigen Lebensverhältnisse von nach Israel eingewanderten Opfern der Schoah ins Zentrum seiner Ansprache.
An die anwesenden Holocaust-Überlebenden gerichtet sagte Rivlin, sie hätten nie den Respekt erfahren, der ihnen gebührte. «Bis zum heutigen Tag ergreift der Staat Israel nicht jede mögliche Massnahme, um sich um die Opfer des Holocaust zu kümmern», sagte er. In Israel leben heute noch 189'000 Überlebende der Schoah, davon 45'000 unterhalb der Armutsgrenze.
Netanjahu wirft Westen Antisemitismus vor
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte «die Propaganda gegen Israel in westlichen Ländern» zur aktuellen Form des Antisemitismus: «Es war die Aufstachlung zum Hass, die zur Schoah führte, und sich in heutiger Zeit gegen Israel richtet.»
Der Antisemitismus sei «mit dem Tod Hitlers nicht in dessen Bunker begraben worden», fügte Netanjahu hinzu. Die westliche Propaganda gegen Israel sei nicht weniger vergiftend als die der Islamisten und der arabischen Welt. Er verwies dabei auf Äusserungen von Politikern und Meinungsführern in Grossbritannien, Schweden und Frankreich in jüngerer Zeit.
Ranghoher Militär kritisiert Israel
Der stellvertretende Generalstabschef Jair Golan hatte am Vorabend bei einer Zeremonie mit ungewöhnlichen Worten Aufsehen erregt. Er sehe heute in Israel ähnliche Prozesse wie in Europa vor dem Holocaust, warnte Golan bei seiner Rede in einem Kibbutz.
«Wenn es etwas gibt, dass mir im Gedenken an den Holocaust Angst macht, dann sind es abstossende Prozesse, die in Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen passiert sind, und deren Anzeichen ich jetzt – im Jahre 2016 – unter uns bemerke», sagte Golan.
Nichts sei leichter, als «den Fremden zu hassen, Angst und Schrecken zu wecken», sagte er. Gerade am Holocaust-Gedenktag sei es wichtig, «Keime der Intoleranz, der Gewalt und der Selbstzerstörung» in der israelischen Gesellschaft zu bekämpfen. Anschliessend betonte Golan, er habe keinesfalls zwischen Israels Staat und Armee und Nazideutschland vergleichen wollen.