Seit drei Jahren ist in Indien kein neuer Fall der gefährlichen Viruserkrankung gemeldet worden. Deshalb feiern heute Vertreter der Regierung, lokaler Gesundheitsorganisationen und der Vereinten Nationen diesen Erfolg mit Festreden in einem Stadion in Delhi. Im März will die Weltgesundheitsorganisation WHO Indien zudem in die Liste der polio-freien Länder aufnehmen.
Heute tritt die Krankheit nur noch in Afghanistan, Pakistan und einigen Ländern Afrikas auf. Das Virus infiziert vor allem Kinder. Sie werden gelähmt oder können sterben wegen der gelähmten Atemmuskulatur.
Der Kampf begann in Indien 1986
Ein Opfer ist Chand Ansari. Er ist Englisch-Lehrer und 30 Jahre alt. Die Kinderlähmung hat sein linkes Bein erschlaffen lassen. «Als ich zwei oder drei Jahre alt war, wurde mein Körper komplett gefühllos. Ein Quacksalber gab mir eine Spritze. Das Medikament verschlimmerte aber meine Situation und ein Teil meines Körpers blieb für immer gelähmt.»
Das war 1986. Das nationale Polio-Impfprogramm wurde eben erst gestartet. Viele entlegene Dörfer, wie jenes von Chand im armen Gliedstaat Bihar im Osten Indiens, konnten damals noch nicht mit Impfstoffen erreicht werden.
Über Seilbrücken und auf dem Rücken von Elefanten
Bis 2009 seien jedoch beinahe alle Kinder unter fünf Jahren geimpft worden, sagt Pradeep Halder, der in Indien alle Impfprogramme koordiniert. In einem Land mit 1,2 Milliarden Einwohnern sei das eine Herkules-Aufgabe, sagt der Regierungsbeamte.
Halder berichtet von Helferinnen, die mit einem Impfkoffer ausgerüstet an einem gespannten Seil über einen Fluss gleiten, um die Dörfer auf der anderen Seite zu erreichen. Oder von Impfteams, die mit Elefanten unterwegs waren. «Man kann sich nicht vorstellen, welche Strapazen unsere mehr als zwei Millionen Mitarbeiter durchgemacht haben, um auch die entlegensten Gebiete zu erreichen», sagt Halder.
Der Rückschlag und des Rätsels Lösung
Doch obwohl man die meisten Kinder geimpft hatte, wurde 2009 die Hälfte aller Polio-Fälle weltweit immer noch in Indien registriert. Die Regierung stand vor einem Rätsel. War man wirklich nicht in der Lage, die Kinderlähmung auszurotten?
«Wir merkten, dass die meisten Neuerkrankungen unter Migranten zu finden waren», sagte Pradeep Halder. Man begann, Leute in Bussen, auf Bahnstationen und auf Baustellen zu impfen. Zudem wurde ein neuer Impfstoff entwickelt, der viel effizienter war.
Damit war der Durchbruch geschafft. Die Neuerkrankungen nahmen laufend ab und seit drei Jahren nun wurde in Indien kein neuer Fall von Kinderlähmung registriert. Das komme einer Sensation gleich, sagt Sona Bari, die Sprecherin für Polio-Bekämpfung bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf.
«Hätten Sie mich vor fünf Jahren gefragt: Kann Indien Polio ausrotten und bis wann, hätte ich gesagt: Indien wird das letzte Land auf der Welt sein, das die Kinderlähmung besiegt», sagte Bari. Jetzt hat es die Regierung geschafft.
Das setze ein Zeichen für die ganze Welt, sagt Bari. «Wir wissen jetzt, dass es möglich ist, Kinder überall zu erreichen und zu impfen – gegen Polio und gegen andere Krankheiten.»