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Ein 16-Jähriger Betroffener mit mentalen und physischen Problemen, der in Thailand lebt.
Legende: Die meisten Vietnamesen kennen den Krieg von damals nur aus der Überlieferung. Doch seine Folgen sind präsent. Keystone

International «Mama, warum bin ich so?»

Noch Generationen nach dem fatalen Einsatz von Agent Orange werden in Vietnam Kinder mit schwersten Missbildungen geboren. Ein Augenschein in einem Land, in dem ein ferner Krieg auf grausame Weise nachwirkt.

Sich zu bewegen fällt ihm schwer, das Atmen auch. Die Muskeln schmerzen und die Knochen. Long Vu ist 13 Jahre alt, sein Bruder Long Than 15. Sie sind die jüngsten Opfer eines Krieges, der eigentlich längst zu Ende ist. Die beiden Kinder sind Opfer des chemischen Entlaubungsmittels Agent Orange, eingesetzt von den Amerikanern im Vietnamkrieg.

«Manchmal fragen mich meine Kinder, Mama, warum bin ich so? Warum habe ich diese Krankheit? Ich weiss gar nicht, was ich dann antworten soll. So habe ich euch geboren, kann ich dann nur sagen. So ist es passiert», sagt Mutter Do Tranh Nhat Linh.

Fürs Leben gezeichnet

Die beiden Brüder brauchen Pflege rund um die Uhr. Sie können sich nicht alleine anziehen, nicht selber essen. Sie können auch nicht in die Schule gehen, beide Kinder sind seit ihrer Geburt schwer behindert. Ihr Vater Tran Nhat Lin war mit Agent Orange in Berührung gekommen, dem dioxinhaltigen Entlaubungsmittel.

«Das war in meinem Wehrdienst. Wir wurden zur Ernte aufs Feld geschickt. Und da bin ich plötzlich umgekippt. Ich war bewusstlos. Die Ärzte sagten damals: ‹alles okay›. Dass ich das Gift eingeatmet hatte, wurde mir erst klar, als mein erster Sohn geboren wurde.»

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Fatale «Kollateralschäden»

Am Strand von Da Nang beginnt die traurige Geschichte. Hier, wo heute Hochhäuser in den Himmel schiessen und amerikanische und chinesische Investoren um den schönsten Blick wetteifern. Vor genau 50 Jahren landeten am China Beach die ersten amerikanischen Bodentruppen. Die US-Armee hoffte, mithilfe von Agent Orange dem Vietcong die Deckung im Dschungel nehmen zu können.

So versprühten die Amerikaner massenhaft Entlaubungsmittel über den Feldern und Wäldern Vietnams – zig Millionen Liter Agent Orange. Die Blätter fielen von den Bäumen und das Dioxin blieb, im Boden und Trinkwasser – mit schrecklichen Folgen bis heute.

Der Krieg hat Narben hinterlassen

Der Krieg ist genau 40 Jahre her. Vietnam bereitet sich auf die grossen Feiern vor. Doch selbst jetzt im Frieden gibt es beinahe täglich neue Opfer. Im Tu Do Krankenhaus von Saigon werden die vielen Kinder des Krieges betreut, vor allem die der armen Bauernfamilien vom Land. Dr. Ta Thi Chung ist 84 Jahre alt, sie ist längst in Rente. Und kommt trotzdem jeden Tag in die Klinik.

«Der Krieg mit den USA hat viele Narben hinterlassen. Wir haben so viele behinderte Kinder, um die wir uns kümmern müssen. Agent Orange ist für unser Land ein riesiges Problem», sagt die Ärztin.

Längst nicht alle Kinder geraten in die fürsorglichen Hände der Pflegerinnen um Dr. Chung. Sie ist zu den Kindern wie eine Grossmutter. «Ich glaube, es geht alles über die Liebe, über die Liebe zu den Kindern. Ohne Liebe, kannst du hier nicht überleben», sagt Hebamme Le Thi Cam Ha.

Leugnen, Vertrösten, und etwas Wiedergutmachung

Jahrelang hat Vietnam um Hilfe gebeten. Die USA haben stets vertröstet, geleugnet, gezweifelt, abgestritten. Erst seit zwei Jahren fliesst Geld für die Opfer. Für viele Vietnamesen bleibt so oder so ein Nachgeschmack. 100 Millionen Dollar – viel zu wenig, finden sie und viel zu spät. Vor allem bei den betroffenen Kindern und Eltern in den ländlichen Regionen kommt bis heute kaum etwas von diesem Geld an.

«Im Moment bekommt jedes Opfer etwa 20 US-Dollar monatlich. Es reicht nicht, um Essen zu kaufen oder ausreichend Kleidung. Ich kann ihnen versichern, die Opfer von Agent Orange sind die ärmsten Menschen in unserem Land. Die amerikanische Regierung sollte ihren Fehler eingestehen. Und sie muss für die Folgen von Agent Orange aufkommen», fordert Nguyen Viet Hoan von der Agent Orange Association.

Beinahe in jedem Dorf behinderte Kinder

Auf den Schlachtfeldern von einst, in beinahe jedem Dorf, gibt es behinderte Kinder – mit übergroßen Köpfen, verstümmelten Händen, ohne Arme oder Beine. Familie Do hat es besonders schwer. Der Vater kam nicht im Krieg, sondern erst Jahre spaeter mit Agent Orange in Kontakt. Die Familie hat deshalb kaum Anspruch auf staatliche Hilfe.

Sie lebt von Spenden: Fünf Kilo Reis zu Jahresbeginn, Kleidung und Süssigkeiten. «Ich habe nur einen Wunsch: Meine Kinder sollen gesund sein. Und wir möchten so gerne noch ein drittes gesundes Kind bekommen», sagt Vater Do Tran Nhat Linh. Die Wunden des Krieges in Vietnam sind noch lange nicht geheilt.

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