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Ein Militärfahrzeug hinter einer Absperrung
Legende: Einen solchen Anschlag zu verhindern, sei für die Geheimdienste fast unmöglich, meint Mauro Mantovani. Reuters

International «Man braucht keine Waffe. Denn der Lastwagen ist die Waffe»

Beim Anschlag in Nizza hat der Attentäter eine bemerkenswerte Taktik angewandt. Für den ETH-Militärstrategen Mauro Mantovani ist sie simpel – und deshalb brandgefährlich. Neu ist die Methode allerdings nicht, und sie kam auch nicht ganz unerwartet: Der IS und Al-Kaida haben dazu aufgerufen.

SRF News: Mauro Mantovani, die Frage drängt sich auf: Warum immer wieder Frankreich?

Mauro Mantovani

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Der Dozent für Strategische Studien lehrt an der Militärakademie der ETH Zürich. Vorher war er beim VBS und beim strategischen Nachrichtendienst tätig.

Mauro Mantovani: Frankreich hat eine grosse muslimische Gemeinschaft mit vier Millionen Menschen. Nach Schätzungen der französischen Behörden sind über 10‘000 davon radikalisiert und gewaltbereit. Das Land hat ferner dem Terrorismus den Krieg erklärt und beteiligt sich aktiv an der Bekämpfung des «Islamischen Staats». Aber letztlich kann sich kein Land sicher fühlen vor solchen Anschlägen.

Auch die Schweiz nicht?

Nein, die Schweiz ist sogar sehr verwundbar. Es besteht kein Ausnahmezustand mit erhöhtem Polizeiaufgebot wie in Frankreich. Zudem gibt es hierzulande – aufgrund der grossen Bewegungsfreiheit, die wir geniessen – viele «weiche Ziele». Allerdings haben wir in der Schweiz auch viel weniger radikalisierte Moslems und unsere Aussenpolitik ist zurückhaltender. Unter dem Strich ist das Risiko vermutlich deutlich kleiner, dass wir hier einen solchen Anschlag erleben.

Der Täter hat einen Lastwagen als «Waffe» benutzt. Bricht damit ein neues Zeitalter des Terrors an?

Die Methode ist nicht neu. Terroristen haben sie schon vor 10 Jahren angewandt. In Schottland und England hat man das bereits erlebt, sogar schon in Frankreich. Und in den Niederlanden wurde einmal ein derartiger Anschlag auf die königliche Familie verübt. In Israel gehören solche Anschläge fast schon zum Alltag. Ausserdem gibt es den Präzedenzfall von 1983 in Beirut. Da hatte ein Lastwagen Sprengstoff geladen, raste auf eine US-Militärbasis zu und riss fast 300 Soldaten in den Tod. Die Methode funktionierte also sogar bei einem «harten» Objekt, einem abgeriegelten Armeestützpunkt.

Werden sich weitere Terroristen in Europa an dieser Tat orientieren?

Aufruf zu Angriffen mit Autos

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Die Zeitschrift «Inspire» der Al-Kaida hat 2010 zu Angriffen mit Autos aufgerufen. 2014 sagte der Sprecher und Führer des IS, Muhammad al-Adnani: «Wenn du einen ungläubigen Amerikaner oder Europäer umbringen kannst – vor allem einen schmutzigen Franzosen – (...), dann schlachte ihn, oder überfahre ihn, (...) oder erwürge ihn, oder vergifte ihn.»

Ich befürchte tatsächlich, dass das Beispiel von Nizza Schule machen könnte. Al-Kaida und der IS haben explizit zu dieser Form des Terrors aufgerufen – wobei vor allem Frankreich getroffen werden sollte. Weiter ist die Taktik vollkommen simpel. Man braucht kein Training und keinen Sprengstoff, nicht einmal eine Waffe. Denn der Lastwagen ist selbst die Waffe. Man kann einfach hineinsitzen und losfahren.

Also eine Form des Terrors, der man wenig entgegensetzen kann?

Einen solchen Anschlag zu verhindern, ist für die Geheimdienste fast unmöglich. Die Täter, sogenannte einsame Wölfe, kommunizieren nämlich kaum. Wie schwierig der Umgang mit ihnen ist, zeigt sich in Israel. Dessen Geheimdienst ist nun wahrlich professionell. Aber noch nicht einmal die Israeli können solche Angriffe zuverlässig verhindern.

Nach solchen Anschlägen wird immer wieder die Forderung laut, dass sich die Muslime von den Tätern abgrenzen sollten. Zu Recht?

Ein Grundproblem des Islam scheint zu sein, dass der Religionsgemeinschaft ein gemeinsames Oberhaupt fehlt, wie etwa im Katholizismus. Stattdessen gibt es viele geistliche Führer, die sogenannte «Fatwas» (religiöse Gutachten) erlassen können. Es würde sicher helfen, wenn sich eine breite Front von religiösen Führen bilden würde, die unzweideutig feststellen, dass solche Schreckenstaten dem Koran widersprechen. Andererseits sind viele Radikale gar nicht besonders korankundig oder gläubig, sondern einfach nur frustriert und extrem gewaltbereit. Ich bezweifle darum, ob diese Menschen überhaupt mit einer religiösen Verurteilung erreicht werden können.

Die Schweiz ist sehr verwundbar.
Autor: Mauro Mantovani Dozent für Strategische Studien

Wie wird Frankreich mit dem Anschlag von Nizza umgehen?

Die Verlängerung des Ausnahmezustands ist ja bereits entschieden. Innenpolitisch ist absehbar, dass der Front National weiter erstarken wird – auch wenn die Partei auch kein Rezept hat, wie man die Terrorbedrohung ausräumen kann. Vermutlich wird Frankreich auch seine Luftangriffe auf den IS in Syrien und Irak verstärken. Ferner nehme ich an, dass Paris gleichzeitig seine Integrationsmassnahmen verstärken wird.

Überall auf der Welt raten die Behörden den Menschen, wachsam zu sein. Was heisst das eigentlich?

Besucher von Grossanlässen können nach ungewöhnlichem Verhalten von Personen oder nach unbeaufsichtigten Objekten Ausschau halten. Mit einem Lastwagen, der in Richtung einer Menschenmenge zu beschleunigen beginnt, haben wohl bisher die wenigsten Europäer gerechnet. Das dürfte sich mit dem gestrigen Anschlag geändert haben. Grundsätzlich ist es sehr sinnvoll, wachsam zu sein, damit man sich und seine Nächsten schnell aus einer Gefahrenzone bringen kann. Aber eine Garantie, dass einem nie etwas zustösst, ist auch die Wachsamkeit nicht.

Das Gespräch führte Christine Spiess

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