Tausende prangern an, dass ausgerechnet russische Waisen den Preis für Putins Machtspiele mit den USA zahlen müssen. Die Gegner von Kremlchef Wladimir Putin starten mit neuem Schwung in ihr Protestjahr, zünden ein Porträt des Präsidenten an und werfen andere in einen Müllcontainer.
Stimmung trotz Kälte aufgeheizt
Die Stimmung am Sonntag im Zentrum von Moskau ist trotz der eisigen Kälte und leichtem Schneefall aufgeheizt. «Schande den Schurken!» und «Russland ohne Putin!» rufen Tausende verärgert. Die Wut der Moskauer richtet sich gegen das unlängst von Putin unterzeichnete Adoptionsverbot russischer Waisen durch US-Bürger, Moskaus Reaktion auf eine angeblich anti-russische Politik von US-Präsident Barack Obama.
Anders als die Russen stehen die Amerikaner im Ruf, oft auch behinderte Kinder in ihre Familien aufzunehmen und zu fördern. Dass Hunderten Waisen nun ein Leben voller sozialer Nachteile droht, weil ihnen diese Chance verbaut wird, ist in Moskau auch nach den Neujahrsferien weiter heiss diskutiertes Thema.
SRF-Korrespondent Franzen: «Emotionales Thema»
«Es ist natürlich ein sehr emotionales Thema», sagt der Moskauer SRF-Korrespondent Christoph Franzen. Es gehe um Waisenkinder, «die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft». Auch der Mittelschicht Russlands sei bekannt, dass diese Kinder in den Heimen «sehr schlecht leben». Und dass vor allem behinderte Waisenkinder «kaum eine Chance haben, jemals adoptiert zu werden».
Die Adoptionen tausender russischer Kinder durch US-Familien werde in der Gesellschaft Russlands durchaus gelobt und «hoch angesehen», fährt Franzen im Gespräch mit Radio SRF4 fort. Und wenn jetzt die russische Elite «ihre Macht auf dem Buckel dieser Waisenkinder ausübt», dann sei dies etwas, was insbesondere die Menschen in der Hauptstadt Moskau «sehr bewegt», ergänzt Franzen.
Zehntausende auf den Strassen
Mehr als 20'000 Protestierer sind laut unabhängigen Schätzungen gekommen. Nach Meinung vieler Beobachter zeigen sie überraschend deutlich, wie tief ihr Frust über die Politik sitzt.
Von einem «Menschenfresser-Gesetz» ist die Rede, das vielen behinderten und kranken Kindern eine gute Behandlung im Westen verwehrt und sie Todesrisiken aussetzt. Auch Rollstuhlfahrer sind unter den Protestierern.
Kinder als «Abwehrschild»
Hunderte Menschen tragen Plakate mit den Porträts von Duma-Abgeordneten - «Marsch gegen die Schurken» steht darauf. «Das Parlament sorgt mit seiner Politik selbst dafür, dass die Menschen auf die Strasse gehen. Deshalb kann von einem Niedergang der Protestaktivität keine Rede sein - eher im Gegenteil», sagt der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Auch andere Putin-Gegner wie Gennadi Gudkow, Ilja Ponomarjow und Sergej Udalzow, der ein Porträt des Kremlchefs verbrennt, sind zufrieden mit der Resonanz.
Der Chef der liberalen Jabloko-Partei, Sergej Mitrochin, kritisiert, dass der Kreml in seinen Machtspielen mit den USA Kinder als «Abwehrschild» einsetze. «Ein schlimmeres Menschenfresser-Gesetz hat die Duma noch nie verabschiedet», schimpft Mitrochin. Dieses politische Regime «vernichtet unser Land».
Reaktion auf US-Gesetz
Auch hier auf der Strasse machen sie die Runde, die vielen Einzelschicksale kranker Kinder, die mitunter Putin sogar in öffentlichen Briefen darum bitten, den Streit mit den USA nicht auf ihrem Rücken auszutragen. Das Adoptionsverbot ist eine Reaktion auf ein neues US-Gesetz, das Sanktionen bei Menschenrechtsverstössen und gegen kriminelle russische Beamte vorsieht.
Angesichts des breiten Protests auch in anderen Städten versichert Putins Sprecher Dmitri Peskow, die Führung in Moskau plane ein Programm, um den mehr als 600'000 Waisen im Land zu helfen. 100'000 von ihnen leben in Heimen, oft in ärmlichsten Verhältnissen. Putin sei auch über die Proteste informiert.