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Eine Wand voller Wahlplakate, Eine Frau mit Kopftuch läuft daran vorbei.
Legende: Der Stadtteil Molenbeek, mitten in Brüssel, hat einiges mit parisischen Randquartieren gemeinsam. Reuters

International Molenbeeks Muslime leben in einer Parallelwelt

Der Brüsseler Stadtteil Molenbeek führte die Polizei Mitte Januar eine Antiterror-Aktion durch. Zwei mutmassliche Terroristen kamen ums Leben, neun Personen wurden verhaftet. Viele Muslime leben dort. Sie zeichnen ein anderes Bild ihres «Problemviertels».

Françoise Schepmans steht am Fenster ihres Büros im zweiten Stock und schaut runter. Auf dem Platz vor dem Bürogebäude streiten zwei Männer. Sie beobachtet die Szenerie, schweift ein wenig ab und sagt dann nachdenklich: «Dass in Molenbeek viele Muslime mit einer radikalen Gesinnung leben, beobachte ich schon lange». Sie habe sich aber nicht vorstellen können, dass es in einem Land wie Belgien auch gewalttätige Extremisten gebe.

Schepmans ist die Gemeindepräsidentin Molenbeeks. Die Gemeinde mit knapp 100'000 Einwohnern ist die zweitärmste Belgiens. Im Zentrum leben und arbeiten praktisch nur Muslime, marokkanische Immigranten. Unter den jungen Erwachsenen sind 40 Prozent arbeitslos. Das sei der Nährboden des Extremismus, sagt Schepmans.

Politik hat keinen Zugang zu Parallelwelt

Die Politik habe die Integration lange völlig vernachlässigt, sagt Schepmans. Trotzdem behauptet sie, bereits vor ihrer Zeit als Gemeindepräsidentin immer wieder auf das Problem hingewiesen zu haben. Schepmans erzählt von Jugendlichen, die plötzlich vom Radar verschwinden und untertauchen und von Hintermännern, die versuchen, die Jugendlichen zu radikalisieren. Sie erzählt von einer Parallelwelt, zu der die Politik keinen Zugang hat.

Was ist das für eine Gemeinde – dieses Molenbeek? Draussen auf der Strasse vor dem Büro der Gemeindepräsidentin stehen drei 15-Jährige. Sie haben alle eine Zigarette im Mund. Fragen wollen sie keine beantworten, dafür greift sich einer das Mikrophon und rappt hinein.

Die Medien zeichnen ein völlig verzerrtes Bild.
Autor: Bewohner Molenbeeks

Etwas weiter gibt es einen Kleiderladen: «Boutique Salam – grand choix de prêt à porter» steht über dem Eingang. Drinnen verkauft ein Mann mit Bart lange Kleider für muslimische Frauen, Kopftücher, Schleier und verschiedene Ausgaben des Korans.

Probleme? Nein, gibt es hier nicht

Draussen auf dem Trottoir beginnen zwei ebenfalls bärtige Männer und eine Frau eine lebhafte Diskussion. Probleme in Molenbeek? Nein, sie hätten keine Probleme. Sie lebten friedlich zusammen und von Radikalisierungen wüssten sie nichts. «Die Medien zeichnen ein völlig verzerrtes Bild», sagt ein Mann. Das wiegle die Menschen gegeneinander auf.

Trotz Antiterror-Aktion der belgischen Polizei vor drei Wochen, mit diversen Verhaftungen auch in Molenbeek, äussern sich verschiedene weitere Passanten genau gleich – als ob sie sich abgesprochen hätten. Einzig ein Mann in einem nahegelegenen marokkanischen Café versucht den Radikalismus und Extremismus zu erklären. Die USA und Europa predigten zwar die Demokratie, doch in den arabischen Ländern unterstützten sie vor allem Diktaturen – das schaffe Ressentiments bei vielen Muslimen. Das müsse sich zuerst ändern.

Problemquartiere sind im Stadtzentrum

Das Eigentümliche an der Millionenstadt Brüssel ist, dass alle so genannten Problemquartiere im Zentrum der Stadt liegen. Es sind alles frühere Arbeiterquartiere. In Belgien setzte die industrielle Revolution früh im 19. Jahrhundert ein. Die Fabriken wurden gleich neben dem mittelalterlichen Zentrum gebaut.

Noch heute leben in diesen Quartieren die jeweils ärmsten Bevölkerungsschichten – allerdings nicht nur. In Molenbeek stehen nur wenige Meter neben dem Gemeindezentrum auch heute noch Fabrikanlagen. Die meisten sind renoviert und umgebaut mit modernsten Lofts für ein zahlungskräftiges Publikum.

Der Belgier Pierre-Marc Moricence hat hier ein Architektur-Büro. Sie lebten zwar gleich nebeneinander, aber sie hätten keinen Kontakt mit den Marokkanern, sagt der Architekt. Er erinnert sich auch noch bestens an den Abend der Antiterror-Aktion. Es seien dutzende Polizei-Autos unterwegs gewesen. Mögliche Terroristen in der unmittelbaren Nachbarschaft, da stelle man sich schon die eine oder andere Frage, auch zur eigenen Sicherheit, sagt Moricence. Dann geht er zurück an sein Pult und schaut zum Fenster hinaus.

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