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International Mosul – vergessene Stadt, verlorene Menschen

Heute vor einem Jahr stürmten Kämpfer des Islamischen Staats den Gouverneurssitz von Mosul. Der Kollaps der stolzen Handelsmetropole am Tigris schreckte die Welt auf. Die Rückeroberung von Mosul sollte das Ende der Terrormiliz einleiten – nun spricht niemand mehr davon.

Seit Jahren befand sich die Stadt Mosul im Ausnahmezustand. In dem Machtvakuum, das die amerikanischen Invasoren in Irak schufen, nisteten sich Extremisten ein. Dass die Metropole eines Tages fallen würde, überraschte darum niemanden.

Philipp Scholkmann

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Portrait von Philipp Scholkmann

Scholkmann ist Nahost-Korrespondent bei SRF. Er hat in Basel und Paris Geschichte und Philosophie studiert. Vor seiner Tätigkeit im Nahen Osten war er Korrespondent in Paris und Moderator bei «Echo der Zeit».

Auch nicht den Apotheker Mohammed, der zusammen mit seiner Frau und drei Kindern in Mosul lebte. Noch am Abend, als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in die Stadt einfiel, flüchtete Mohammed mit seiner Familie. Unter deren Scharia-Terror zu leben, sei für ihn undenkbar gewesen, sagt er – obwohl er Sunnit ist und damit Angehöriger der Konfession, die der IS zu vertreten vorgibt. Mit seiner Familie hat Mohammed ausserhalb von Erbil eine Bleibe gefunden – in der kurdischen Autonomiezone.

Mehrere hunderttausend Andersgläubige und Andersdenkende taten es Mohammed gleich. Christen, Jesiden, Schiiten, aber auch viele Sunniten flohen in nach dem Fall Mosuls ins benachbarte Kurdengebiet. Manche, vom IS als Ketzer verfolgt, entrannen so dem sicheren Tod.

Konfessioneller Konflikt als Anfang vom Ende

Der Fall von Mosul kam mit Ankündigung: Fanatiker aus dem Netzwerk von Al-Kaida schürten die Spannungen mit Anschlägen, Entführungen und Erpressungen. Sunnitische Politiker machten gleichzeitig Stimmung gegen die Regierung in Bagdad. Sie fühlten sich als Sunniten benachteiligt im neuen, schiitisch dominierten Irak.

Der damalige Regierungschef in Bagdad, Nuri al-Maliki, warf der sunnitischen Protestfront vor, sie sei von ausländischen Mächten gesteuert und motiviert durch Revanchegelüste. Er schlug alle ihre Forderungen nieder, schickte Panzer in die Provinz Anbar und stationierte Generäle unter seiner direkten Kontrolle in Mosul.

Das missfiel auch dem Gouverneur Athil al-Nujaifi, der aus einer der grossen Notabelnfamilien der Stadt stammt. Aber auch seine Rolle ist umstritten. Apotheker Mohammed meint, Gouverneur al-Nujaifi sei Teil des Problems gewesen, denn er habe den IS unterstützt. Als die Dschihadisten Mosul einnahmen, vertrieben sie allerdings auch den Gouverneur.

Irakische Armee implodiert

Ducken, mitmachen oder sterben

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Der IS habe Mosul längst fest im Griff, sagt Polizist Hussein: mit Terror und auch mit Indoktrination. Wer in der Stadt zurückblieb, muss sich heute ducken – oder mitmachen. Es gebe keine Alternative zum Regime des IS, sagt Hussein. Seinen jüngeren Bruder habe der IS verhaftet, weil Hussein gegen sie gekämpft habe. Er wisse nicht, ob er noch lebe.

Auch der Polizist Hussein erlebte die Umwälzungen in Mosul hautnah. Er kämpfte mit und wartete auf Unterstützung, aber vergeblich: Die Generäle verliessen die Stadt, die Soldaten stoben auseinander. Bis heute sind die Umstände nicht restlos klar, ob es geheime Absprachen gab oder ob Scharfmacher in Bagdad oder Mosul bewusst eine Eskalation der Ereignisse herbeiführen wollten.

Sicher ist nur, dass drei Divisionen der irakischen Armee in und um Mosul in sich zusammengefallen sind. Sie hinterliessen dem IS bestes Kriegsgerät aus den USA.

US-Sonderkommandos haben nun angefangen, die versprengten Kräfte der Polizeieinheiten von Mosul für eine Gegenoffensive zu trainieren. Auch Hussein geht manchmal zum Training, doch er ist nicht überzeugt. Ein oder zwei Stunden, das sei nicht ernsthaft, meint Hussein. «Sie geben uns auch keine schlagkräftigen Waffen.» So lasse sich die straff organisierte und hochgerüstete Terrormiliz nicht aus der Millionenstadt vertreiben.

Sunnitische «Flüchtlings-Miliz» im Aufbau

Der Widerstand gegen den IS in Mosul formiert sich aber. Hashd al-Watani nennt sich eine sunnitische Miliz, die von Abdullah al-Nujaifi koordiniert wird. Er ist der Sohn des vom IS vertriebene Gouverneurs, der versucht, mit Flüchtlingen die Miliz aufzubauen. Unterstützt wird er von der Türkei, erzählt Abdullah.

Die mit der Türkei liierten Kurden stellen ihnen das Trainingsgebiet zur Verfügung. Vor ein paar Tagen wurden die ersten 3000 Mann vereidigt. Weitere 3000 werden gerade rekrutiert, sagt Abdullah. Die Amerikaner trainieren die Polizei, die Türken al-Nujaifis Miliz, zusammen schätzungsweise 15'000 Mann.

Die irakischen Sunniten bräuchten auch finanzielle und militärische Unterstützung aus der Hauptstadt: «Bagdad sollte mit den sunnitischen Führern zusammenarbeiten.» Die Unterstützung aber kommt nicht, sagt al-Nujaifi, denn schiitische Politiker in Bagdad werfen dem vertriebenen Gouverneur vor, er sei daran, sich eine Privatarmee schaffen.

Ohne glaubwürdige Alternative wird Mosul nie befreit.
Autor: Abdullah Nujaifi Sohn des Gouverneurs von Mosul

Das schiitisch dominierte Parlament hat Gouverneur al-Nujaifi deswegen vor ein paar Tagen in einem bizzaren Verfahren abgesetzt. Es fehle der Wille in Bagdad, eine sunnitische Kraft aufzubauen, bilanziert der Sohn.

Dagegen arbeitet Bagdad mit schiitischen Milizen zusammen, schickt sie gar als Speerspitze des Kampfs gegen den IS in die sunnitischen Provinzen. Obwohl Manche berüchtigt sind und Manche ihrer Befehle aus dem Iran beziehen.

«Wenn wir keine glaubwürdige Alternative für Mosul aufbauen können, wird die Stadt nie befreit», sagt dazu Abdullah al-Nujaifi.

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