Abdullah Öcalan, der Chef der Kurdenpartei PKK, galt in der Türkei viele Jahre lang als Inbegriff des Bösen, als Drahtzieher des kurdischen Kampfes gegen die Türkei. Als man ihn 1999 gefangen nahm, war das der wohl grösste Schlag des türkischen Militärs gegen die PKK. Seither sitzt Öcalan in Haft auf einer kleinen Insel im türkischen Marmara-Meer.
In letzter Zeit scheint Öcalan in der türkischen Politik wieder eine Rolle zu spielen Er meldet sich zu Wort, wenn es um den Friedensprozess zwischen den Kurden und der Türkei geht. Auslandredaktorin Iren Meier erklärt die Bedeutung des inhaftierten Kurdenführers.
SRF: Wird Abdullah Öcalan gerade rehabilitiert?
Iren Meier: Gewissermassen schon. Es ist aber keine plötzliche Rehabilitierung. Das kommt uns nur so vor, weil er im Kampf um die Kurdenstadt Kobane eine öffentliche Rolle spielt. Eigentlich läuft seine Rehabilitierung seit 2012, als der Friedensprozess in Gang gesetzt wurde.
Inwiefern hat sich die Türkei in den letzten Jahren verändert, um das zu ermöglichen?
Ein wichtiger Schritt war der Machtwechsel 2003, als die islamisch-konservative Partei AKP mit dem heutigen Staatspräsidenten Erdogan an die Macht kam. Sie löste die Kemalisten ab, die das Land über Jahrzehnte mit einer starken Armee regiert haben. Erdogan hat die Armee entmachtet und gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass der Krieg mit den Kurden der Türkei nichts bringt. 2012 hat er dann ein Tabu gebrochen, als er den Friedensprozess mit den Kurden in Gang brachte.
Wie gross ist der Einfluss des PKK-Vorsitzenden heute?
Sehr gross. Er ist die politische Instanz, mit dem der türkische Staat den Friedensprozess verhandelt. Die Gefangenschaft hat ihn noch mehr zur Ikone gemacht, als er es vorher schon war. Kritik von kurdischer Seite gibt es kaum. Er ist eigentlich unantastbar.
Wo bemerkt man Öcalans Einfluss in der türkischen Politik konkret?
Präsident Erdogan hat sich geweigert, PKK-Kämpfer nach Syrien zu lassen, um die Stadt Kobane gegen den sogenannten Islamischen Staat zu verteidigen. Er hat gesagt, Kobane werde fallen, und man sagt Erdogan auch gewisse Sympathien gegenüber dem Islamischen Staat nach. Daraufhin hat Öcalan die Strassen mobilisiert. Es gab Ausschreitungen in vielen türkischen Städten. Die türkische Regierung hat ihn dann gebeten, diese Proteste zu stoppen. Und Erdogan hat eingewilligt, kurdische Kämpfer aus dem Irak über die Türkei nach Syrien zu lassen. Das war eine Machtdemonstration Öcalans.
Nach den langen Jahren im Gefängnis: Sind innerhalb der Kurdenpartei keine anderen Führungsfiguren aufgekommen?
Doch. Es gibt etwa Murat Karayilan, der die PKK im nordirakischen Kandilgebirge kommandiert, oder Masud Barsani, Präsident der autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Dieser rivalisiert mit Öcalan um die Führungsrolle für alle Kurden. Barsani ist sehr opportunistisch, er unterhält etwa enge wirtschaftliche Beziehungen zur türkischen Regierung. Dann gibt es einen charismatischen Jungpolitiker, der einen neuen Typ des kurdischen Politikers verkörpert: Selahattin Demirtas kämpft nicht nur für die kurdische Sache, sondern setzt sich für soziale Werte, für Rechtsstaatlichkeit ein. Auch junge Türken haben ihn gewählt. Demirtas kann noch nicht unabhängig von Öcalan entscheiden, aber vielleicht ist er ein Mann der Zukunft.
Gibt es auch Gegner des Friedensprozesses?
Die türkische Armee ist der Hauptgegner der Kurden. Viele Militärs sind nicht einverstanden mit diesem Kurs. Auch im politischen Establishment ist Widerstand vorhanden. Gerade unter diesen Voraussetzungen ist es Präsident Erdogan hoch anzurechnen, dass er den Friedensprozess in Gang gesetzt hat.