In seinem ersten grossen Interview hat sich Papst Franziskus überraschend kritisch gegen die katholische Kirche geäussert. Offen forderte er die Kirche dazu auf, sich nicht nur mit Fragen der Abtreibung, der gleichgeschlechtlichen Ehen, sowie der Scheidung und Verhütung zu befassen. Es gehe nicht, dass sich die Kirche nur auf bestimmte kritische Fragen konzentriere. Die Aufgabe seiner Kirche sei es vielmehr, ein «neues Gleichgewicht» für ihre zahlreichen Lehren zu finden und zu helfen, die Wunden der Menschen zu heilen.
Die Haltung der Kirche zu Themen wie Abtreibung sei bekannt. «Man muss nicht endlos davon sprechen», so der Papst.
«Was macht der Beichtvater?»
Papst Franziskus sprach sich zudem für mehr Barmherzigkeit gegenüber den Menschen aus, die aus Sicht der Kirche vom rechten Weg abgekommen sind. «Der Beichtstuhl ist kein Folterinstrument, sondern ein Ort der Barmherzigkeit.» Er denke dabei auch an die Situation der Frau, deren Ehe gescheitert ist und die abgetrieben hat. Nun belaste sie diese Abtreibung und sie bereue es. «Was macht der Beichtvater?», fragt Franziskus.
Für SRF-Religionsexperte Norbert Bischofberger fordert der Papst die Seelsorger damit auf, mehr auf die Menschen zu hören. «Sie sollen die Menschen in ihrer Situation mit ihren Ängsten und Nöten ernst nehmen.»
Die Aussagen des Papstes seien aber nicht so revolutionär, wie diese teils dargestellt werden. Das Interview lasse tief in die Gedankenwelt des Papstes blicken. «Franziskus zeigt, dass er mit Barmherzigkeit auf die Menschen zugehen will und Menschen die homosexuell sind oder abgetrieben haben nicht verurteilt», so Bischofberger.
Kirche vor der Spaltung bewahren
Über den Umweg der Barmherzigkeit lasse der Papst zwar einen gewissen Reformwillen durchscheinen, «eine neue Lehre der Kirche wird er aber nicht etablieren.»
Die Äusserungen des Papstes seien zu einem gewissen Masse auch taktisches Kalkül. In der Kirche herrschen laut Bischofberger Spannungen zwischen Links und Rechts. Die Strategie des Papstes sei es diese Kräfte auszugleichen, um die Kirche «keiner Spaltung auszusetzen.»