Vor einer Woche übernahm Italien für ein halbes Jahr den EU-Vorsitz. Ministerpräsident Matteo Renzi versprach den Italienerinnen und Italienern schon zuvor, sich in diesen sechs Monaten für eine Lockerung des EU-Stabilitäts- und Wachstumspaktes einzusetzen, da der die Länder des Südens stranguliere und kein Wachstum zulasse. Mit grossem Selbstbewusstsein verlangte Renzi in seiner Antrittsrede in Strassburg eine Diskussion über den ungeliebten Pakt. Italienische Medien jubelten, Renzi werde der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, die nur sparen im Kopf habe, Paroli bieten.
Reformen produzieren Arbeitslosigkeit
Renzis Idee ist einfach und auf den ersten Blick einleuchtend: Länder, die harte Strukturreformen vornehmen – Stichworte sind da etwa der Abbau des aufgeblähten Staatsapparates oder die Flexibilisierung des verkrusteten Arbeitsmarktes – bei diesen Ländern soll der Stabilitäts- und Wachstumspakt «flexibler» ausgelegt werden. «Denn», sagt Renzi, «Strukturreformen verursachten zuerst einmal Kosten, zum Beispiel in Form einer vorübergehend höheren Arbeitslosigkeit.» Reformfreudige Länder sollten deshalb etwas später mit dem Abbau ihrer Schulden beginnen können. Zudem sollen wachstumsfördernde Investitionen, wie zum Beispiel in die Digitalisierung, nicht voll in die Staatsrechnung aufgenommen werden, sondern nur teilweise, da diese Investitionen einen bleibenden Wert darstellten.
Niemand sitzt im gleichen Boot
Zum Showdown zwischen Renzi und der aufs Sparen versessenen Angela Merkel und den andern Nordeuropäern wird es allerdings nicht kommen. Denn Renzi bleibt mit seiner Forderung nach einer flexibleren Auslegung des Stabilitätspaktes ziemlich alleine. Selbst Spanien und Portugal, die als natürliche Verbündete Italiens gelten, weil auch sie unter dem Spardiktat leiden, auch sie lassen sich von Renzi nicht ins Boot holen. Sie dürften sich gedacht haben: Nach Jahren harten Sparens im eigenen Land werden wir den Italienern nicht Hand bieten, einen weicheren Sparkurs fahren zu können. Das geschundene Wahlvolk in Portugal und Spanien würde das kaum verstehen.
Selbst Frankreichs Finanzminister hat Italien den Sukkurs verweigert und sich nur sehr vage zu Renzis Ideen geäussert. Das überrascht. Noch vor kurzem hatte sich Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande angetan von den Vorschlägen Renzis gezeigt.
Als ob das nicht genügte, hat nun auch der Chef der Europäischen Zentralbank, der Italiener Mario Draghi, indirekt seinem Landsmann Matteo Renzi die rote Karte gezeigt. In einer Rede sagte er gestern, es sei absolut essentiell, dass alle vereinbarten Regeln eingehalten werden. Draghi erwähnte Italien nicht direkt. Doch der Adressat war klar.
Schlendrian lässt grüssen
Dass sich Italien nicht an die Abmachungen hält, konnte man gestern schwarz auf weiss im Monatsbericht der EZB nachlesen: Von sechs auf dem Höhepunkt der Eurokrise vereinbarten Reformpunkten habe Italien keinen einzigen vollumfänglich umgesetzt, heisst es dort.
Mit diesem vernichtenden Urteil dürfte es Matteo Renzi schwer haben, Unterstützung für sein Anliegen zu finden. Denn in Europa weiss man auch: Italiens Regierungen unterzeichnen seit den 80er Jahren Abmachungen und Vereinbarungen, die zu gesünderen Staatsfinanzen führen sollen. Doch einhalten tun sie selten eine. Ein Grund dafür ist, dass Regierungen in Italien im Schnitt weniger als ein Jahr an der Macht sind. Und die Nachfolger verspüren in der Regel wenig Lust, unpopuläre Massnahmen der Vorgänger umzusetzen.
Angesichts dieses langjährigen Schlendrians erstaunt es nicht, dass niemand willens ist, auf Renzis Forderungen einzugehen, auch wenn sie zumindest teilweise gerechtfertigt sind.