Sie warten. Dutzende von Männern, in traditionelle afghanische Umhänge gekleidet, mit weissen und schwarzen Turbanen. Sie sind in stunden- und tagelangen Fahrten angereist. Ein Zelt spendet ihnen Schatten. In einem anderen warten die Frauen. Die Zelte stehen im Innenhof des Gebäudekomplexes des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) in der ehemaligen Taliban Hochburg Kandahar.
Der weissbärtige, 76-jährige Haji Mohammed ist gekommen, um heute mit seinen zwei Söhnen zu sprechen. Diese seien vor sieben Monaten verhaftet und nach Bagram gebracht worden, sagt Haji Mohammed. «Um zwei Uhr früh drangen die Amerikaner in unser Haus ein und verhafteten meine zwei Söhne. Die Soldaten sagten, meine Söhne seien Taliban, aber das stimmt nicht, sie sind einfache Bauern. Ich glaube, jemand hat sie angeschwärzt, um uns eins auszuwischen.»
Anklage: unklar
Haji Mohammed weiss nicht, wie lange seine Söhne noch in Gefangenschaft bleiben müssen. Einmal konnte er sie mit Hilfe des IKRK in Bagram besuchen. Einmal ist er bereits nach Kandahar gereist, um Dank des Telefonprogramms des IKRK eine halbe Stunde mit ihnen zu sprechen.
Auch der 32-jährige Sheir Mohammed ist in einer Tagesreise aus seinem Dorf in Helmand angereist, um heute mit seinem Bruder zu sprechen. Der grossgewachsene Bauer mit dem silbernen Turban wartet geduldig, bis er an der Reihe ist: «Mein Bruder hat als Fahrer gearbeitet, um Geld für seine Hochzeit zu sparen. Vor zwei Monaten übernachtete er nach einer Fahrt bei unserem Onkel. In der Nacht stürmten die ausländischen Soldaten das Haus und nahmen ihn fest. Bis heute wissen wir nicht, was sie ihm vorwerfen.» Plötzlich springt Sheir Mohammed auf. Sein Bruder wartet am anderen Ende der Leitung.
Das IKRK hat in Afghanistan, genauso wie in anderen bewaffneten Konflikten, die Rolle des Vermittlers. Das Telefonprogramm ist Teil dieses Auftrags. In Kandahar können so wöchentlich rund 60 Familien mit ihren Verwandten, die im Gefängnis in Bagram einsitzen, sprechen. Die Nato-Truppen lassen der Hilfsorganisation Listen mit den Namen der Gefangenen zukommen, so dass diese die Angehörigen informieren kann.
«Was soll ich anpflanzen?»
Die Zahl der Gefangenen in Bagram habe in den letzten Monaten stark abgenommen. Heute befänden sich noch ungefähr 1200 Gefangene dort, vor ein paar Monaten seien es mehr als doppelt so viele gewesen, sagt Thomas Forster, bis vor kurzem noch Delegierter des IKRK in Kandahar.
Für viele Afghanen sei das Telefonprogramm die einzige Möglichkeit, mit ihren Angehörigen zu kommunizieren: «Es werden ganz alltägliche Dinge besprochen, die landwirtschaftlichen Probleme, was angepflanzt werden soll, die neusten Familienanliegen. Von Seiten der Behörden wird zensuriert, wenn sie über Politik oder den Konflikt sprechen.»
Sheir Mohammeds halbe Stunde in der Telefonkabine ist um. Der Afghane strahlt übers ganze Gesicht. «Mein Bruder sagte, es gehe ihm gut, er könne in die Moschee und kriege genügend zu Essen. Zuerst wollte er wissen, was mit seinem Auto passiert sei. Ich habe ihn beruhigt. Dann fragte er, ob es geregnet habe, ob der Weizen gut wachse. Ich sagte, alles sei gut und dass wir ein Zimmer für ihn gebaut haben, damit er sofort heiraten kann, wenn er aus dem Gefängnis entlassen wird.»
Was kommt nach den Nato-Truppen?
Sheir Mohammed weiss nicht, wann das sein wird. Gott alleine wisse es, genauso wie nur Gott alleine die Zukunft kenne. Sheir Mohammed ist zwar froh, wenn die Ausländer abziehen, eine sichere Zukunft bedeute das jedoch noch lange nicht.
In vielen ländlichen Gebieten Afghanistans sind die Regierung und die Sicherheitstruppen gänzlich abwesend. Und die lokale Polizei gilt nicht als Garant für Sicherheit, sondern ist bekannt für Misshandlungen und Gewalt. Bereits jetzt sind viele afghanische Gefängnisse überbelegt, die Zustände mancherorts katastrophal. In einem solchen Umfeld werden auch nach dem Abzug der Nato-Truppen die Dienste von Vermittlern dringend nötig sein.