Eine unabhängige Kommission der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) hat in Genf den Ausschluss des russischen Leichtathletik-Verbandes (Araf) aus dem Weltverband IAAF gefordert. Grund: Die Nicht-Einhaltung des Anti-Doping-Codes.
«Tief verwurzelte Betrugskultur»
«Es ist schlimmer, als wir dachten», sagte der Kommissionsvorsitzende Richard Pound in Genf. Gemäss dem ehemaligen Wada-Präsident und IOC-Vize wurde das systematische Doping-System offenbar von höchsten Stellen der Moskauer Regierung gedeckt. «Sie können es nicht nicht gewusst haben.»
Systematische Dopingkultur im russischen Sport, ein Korruptionsgeflecht mit der IAAF-Spitze und sogar das Mitwirken des russischen Geheimdienstes FSB: Die Wada-Kommission sieht es als erwiesen an, dass in der russischen Leichtathletik eine «tief verwurzelte Betrugskultur» geherrscht habe. Zudem bestätigte der Bericht Korruption und Bestechung auf höchster Ebene der IAAF.
Schwere Vorwürfe gegen Ex-IAAF-Präsident
Drahtzieher bei der IAAF soll der langjährige Präsident Lamine Diack sein. Gegen den 82-jährigen Senegalesen und weitere Beschuldigte, darunter zwei seiner Söhne, wurde in der vergangenen Woche in Frankreich wegen des Verdachts der Korruption und Bestechlichkeit ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Kommission hatte den staatlichen Ermittlern entsprechende Hinweise gegeben. Die Beschuldigten sollen gegen Zahlung von mehr als einer Million Euro positive Dopingproben vertuscht haben.
«Die unabhängige Kommission hat systematische Fehler innerhalb der IAAF und in Russland identifiziert, die die Möglichkeit eines effektiven Anti-Doping-Kampfes vermindern», hiess es in dem Bericht der Kommission unter der Leitung des ehemaligen Wada-Präsidenten Richard Pound: «Dies geht bis zu dem Punkt, dass weder die Araf, die russische Anti-Doping-Agentur (Rusada) noch die russische Föderation als regelkonform mit dem Wada-Code angesehen werden können.»
Sanktionen gegen fünf Sportler
Auf insgesamt 320 Seiten zerstört der Bericht der Kommission jeden noch vorhandenen Rest an Glaubwürdigkeit in den russischen Sport und die Arbeit des Weltverbandes IAAF. Und er enthüllte dabei Mafia-Methoden, die die Sportwelt bis ins Mark erschüttern. Schliesslich offenbarte der Bericht selbst im Vergleich zur Krise im Fussball-Weltverband Fifa eine neue Dimension.
Erstmals wurde nachgewiesen, dass ein Weltverband durch die Vertuschung positiver Dopingproben selbst dafür sorgte, dass die Ergebnisse internationaler Wettbewerbe verfälscht wurden. So hätten unter anderem die spätere 800-m-Goldmedaillengewinnerin Marina Sawinowa nicht in London an den Start gehen dürfen. Die unabhängige Kommission befürwortet in ihrem Bericht eine lebenslange Sperre wegen Dopings. Insgesamt forderte die Kommission Sanktionen gegen fünf Sportler, vier Trainer und einen Mediziner sowie Nachuntersuchung in zahlreichen weiteren Verdachtsfällen.
Moskauer Labor zerstörte Proben
Heftig beschuldigt wurden auch das Moskauer Anti-Doping-Labor und dessen Chef Gregori Rodschenkow. Nach Angaben der Kommission sei das Labor nicht in der Lage, eigenständig zu handeln, Mediziner und Laborpersonal hätten den Betrug ermöglicht. Zudem seien «mut- und böswillig» mehr als 1400 Proben zerstört worden, nachdem die Wada-Zielkontrollen angeordnet hatte. Dem Labor soll die Akkreditierung entzogen und Rodschenkow «dauerhaft» von seinem Posten entfernt werden.
Sollte die Wada das Massnahmenpaket der Kommission übernehmen und offiziell an die IAAF und das Internationale Olympische Komitee weiterreichen, läge ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte des Sports in der Luft: der Ausschluss eines kompletten Landesverbandes von internationalen Wettbewerben wie Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen.
Wenig Spielraum für harmlose Sanktionen
Unabhängig vom Fortgang der Dinge setzt der Paukenschlag der Kommission die Wada, die IAAF und auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) enorm unter Druck. Denn die Untersuchungsergebnisse übertrafen die schlimmsten Befürchtungen und lassen den grossen Organisationen wenig Spielraum für harmlose Sanktionen.
Spannend wird nun die Frage sein, wie die verantwortlichen Stellen den Massnahmenkatalog des Berichts umsetzen. IAAF-Präsident Sebastian Coe zeigte sich jedenfalls von den neuen Erkenntnissen alarmiert und kündigte an, dass sich das Council seines Verbandes mit der Frage nach Sanktionen gegen Russland beschäftigen werde.
Interpol nimmt Ermittlungen auf
Derweil nahm Interpol im Zuge des Skandals Ermittlungen auf. Die länderübergreifende Polizei-Behörde gab kurz nach der Präsentation der Kommissions-Ergebnisse bekannt, dass sie eine weltweite Untersuchung unter französischer Leitung koordinieren werde. Interpol will mit Behörden in allen Ländern zusammenarbeiten, die von dem Skandal betroffen seien.