Die körnigen Schwarzweiss-Bilder einer Überwachungskamera zeigen ein leeres Förderband unter Tage. Plötzlich blitzen die Stirnlampen von Männern auf, die einen
verletzten Arbeiter aus der Kohlegrube im westtürkischen Soma führen: Der Arbeiter hat Glück gehabt, er gehört zu den Überlebenden des schwersten Grubenunglücks in der Türkei seit Jahrzehnten.
Explosion in der Tiefe
Die Grube in Soma ist einer der grössten Arbeitgeber der Region in der Provinz Manisa. Rund 6500 Kumpel arbeiten hier. Beim Schichtwechsel am Dienstagnachmittag befinden sich mehrere hundert von ihnen in der Grube, als rund 400 Meter unter Tage ein Umspannwerk explodiert und in Brand gerät. Der Strom in der Grube fällt aus, die Aufzüge und die Luftzufuhr für die Arbeiter funktionieren nicht mehr.
Mehrere hundert Männer sind bis zu zweitausend Meter tief unter der Erdoberfläche und vier Kilometer vom Grubeneingang entfernt gefangen. Für die Opfer und die Retter beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, den viele in dieser Nacht verlieren sollen.
Experte sprach von «Süssem Tod»
Vor dem Eingang zum Bergwerk und vor dem Spital von Soma laufen unterdessen die Verwandten der Eingeschlossenen zusammen und versuchen verzweifelt, Neuigkeiten über ihre Väter und Söhne zu erfahren.
«Seit dem frühen Nachmittag warte ich nun schon,» sagt Sena Isbiler, die Mutter eines Bergarbeiters. Sie steht vor der Grube auf einem Stapel Holz und versucht, über die Köpfe der anderen Wartenden hinweg einen Blick auf die Glücklichen zu erhaschen, die erschöpft und mit russgeschwärzten Gesichtern aus dem Bergwerk geführt werden.
Die Behörden schicken vier Rettungsteams in die Grube. Sie versuchen, den Brand unter Tage zu löschen und die eingeschlossenen Bergarbeiter mit Frischluft zu versorgen. Im Fernsehen sorgt ein Experte für wütende Reaktionen der Zuschauer, als er die Folgen einer Monoxid-Vergiftung unter Tage als «süssen Tod» bezeichnet, bei dem der Betroffene keinerlei Schmerzen spüre.
Tod innert Stundenfrist
Die Regierung entsendet Energieminister Taner Yildiz nach Soma. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagt eine Auslandsreise ab und kündigt sich ebenfalls am Unglücksort an. Auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu will nach Soma reisen.
«Die Zeit läuft gegen uns», sagt Minister Taner, der in der Nacht am Grubeneingang steht und sieht, wie die verletzten Überlebenden ins Freie gebracht werden. «Tod durch Erstickung ist die grösste Gefahr», sagt Bergbau-Professor Vedat Didari von der Bülent-Ecevit-Universität im türkischen Kohlerevier in Zonguldak am Schwarzen Meer. «Wenn die Frischluftventilatoren an der Decke ausfallen, können die Arbeiter innerhalb einer Stunde sterben.»
Noch während die Rettungsarbeiten im vollen Gange sind, beginnt die Debatte über die Gründe für das Unglück. Behörden und Grubenleitung sprechen von einem tragischen Unfall. Sie betonen, das privat betriebene Bergwerk sei erst kürzlich kontrolliert worden. Doch angesichts der häufigen Unglücke in türkischen Gruben sind die Zweifel gross.