11. März 2011: Ein Seebeben der Stärke 9 erschüttert den Meeresboden vor der japanischen Ostküste. Kurz darauf treffen Tsunami-Wellen auf die Nordostküste der Hauptinsel Honshu. Die Wellen erreichen Höhen bis zu 16 Metern, auch hohe Mauern halten die Wasserwalze nicht auf.
Überschwemmt wird auch das Atomkraftwerk Fukushima, das direkt am Meer liegt. In der Folge kommt es in drei der vier Reaktoren zur Kernschmelze. Das Umland wird verstrahlt. Die Aufräumarbeiten werden wohl noch Jahrzehnte dauern, die Kosten in astronomische Höhen schiessen. SRF-Japan-Mitarbeiter Martin Fritz schildert die aktuelle Lage in und um Fukushima.
SRF News: Haben die Japaner die zerstörten Reaktorblöcke von Fukushima heute im Griff?
Martin Fritz: Das würde ich nicht unbedingt behaupten. Die Reaktoren strahlen immer noch sehr stark, der geschmolzene Brennstoff ist immer noch da, auch sind die Behälter der Reaktoren Eins, Zwei und Drei weiterhin undicht. Zwar sagt der AKW-Betreiber Tepco, die Lage sei stabilisiert. Doch bei jedem neuen Beben oder Taifun fragt man sich in Japan, ob das wirklich stimmt.
Bedeuten die undichten Behälter denn auch, dass immer noch verstrahltes Wasser ins Meer fliesst?
Jeden Tag laufen mehrere Hundert Tonnen Grundwasser in die Untergeschosse der Reaktorgebäude und vermischen sich mit der radioaktiven Brühe aus den lecken Reaktorbehältern. Das verseuchte Grundwasser sickert dann in Richtung Meer weiter. Zwar gibt es inzwischen eine Sperre im Boden, aber nur ein Teil des Wassers wird abgepumpt und gereinigt, ein Teil fliesst wohl weiter.
Es ist immer noch unklar, wo genau sich der geschmolzene Kernbrennstoff befindet. Haben die Ingenieure inzwischen eine Lösung für die Stilllegung der Anlagen?
Die Bergung des geschmolzenen Reaktorkerns ist technisches Neuland und es ist völlig ungeklärt, wie das funktionieren soll. Dazu muss zuerst noch geforscht werden. Zunächst müssen nun tausende abgebrannte Brennstäbe geborgen werden. Sie liegen in Abklingbecken in den oberen Stockwerken der drei Reaktorgebäude. Die Becken sind allerdings nicht frei zugänglich, durch ferngesteuerte Kräne müssen sie zunächst freigelegt werden. Deshalb kann die Bergung erst nächstes Jahr beginnen.
Das Ganze ist eine Sisyphos-Arbeit.
Die Strahlenbelastung im evakuierten Gebiet rund um das Reaktorgelände ist zurückgegangen, die japanische Regierung möchte einen Teil des Gebiets wieder freigeben. Werden die Menschen tatsächlich dorthin zurückkehren?
Von den sieben evakuierten Orten in der Sperrzone werden drei auch in den nächsten Jahrzehnten nicht bewohnbar sein, weil sie zu stark verstrahlt sind. Von den anderen vier Orten ist einer im vergangen September freigegeben worden. Sechs Prozent der früheren Bewohner sind inzwischen dorthin zurückgekehrt, meist alte Menschen. Die Jüngeren wollen die Gesundheit ihrer Kinder nicht riskieren und kehren nicht zurück.
Vertrauen die Menschen den Messungen und Angaben der Regierung denn überhaupt?
Die Rückkehrer erhalten ein Dosimeter, das einmal jährlich ausgewertet wird, da kann man nicht so leicht betrügen. Allerdings wurden nur Strassen, Wiesen und Gärten dekontaminiert, nicht aber das Unterholz und die Wälder. Mit Wind und Regen verteilt sich das Strahlenmaterial nun von dort aber wieder in die zuvor dekontaminierten Zonen. So gibt es bereits wieder sogenannte Hotspots. Das Ganze ist eine Sisyphos-Arbeit, und niemand weiss tatsächlich, was verstrahlt ist und was nicht.
Die Fukushima-Katastrophe hat bislang umgerechnet rund 100 Mrd. Franken gekostet.
In Japan sind derzeit 43 Atomreaktoren vorübergehend stillgelegt, 2 sind wieder am Netz. Haben die Japaner überhaupt noch Vertrauen in die Atomtechnologie?
Laut Umfragen ist das Vertrauen in die AKW-Anlagen und die Betreiber sehr gering. Allerdings stehen die meisten Reaktoren in dünn besiedelten Regionen, so dass die meisten Japaner mit den AKWs im täglichen Leben nur wenig zu tun haben. Die Regierung ihrerseits hält an der Atomtechnologie fest und argumentiert, man könne die AKWs nicht einfach abschalten und den Strom aus fossilen und erneuerbaren Quellen herstellen – das sei zu teuer. Das ist auf den ersten Blick nicht falsch; allerdings werden allein die bisherigen Kosten der Fukushima-Katastrophe auf umgerechnet rund 100 Milliarden Franken geschätzt, vermutlich wird es am Ende sogar doppelt so viel sein. Für Japan wäre ein allmählicher Ausstieg aus der Atomkraft wohl der bessere Weg als die Rückkehr zur Atomenergie, den die Regierung anstrebt. Denn schon beim nächsten Erdbeben kommt es vielleicht zu einer neuen teuren Katastrophe.
Hat Japan überhaupt etwas gelernt aus Fukushima – oder steht man an derselben Stelle wie zuvor?
Auf jeden Fall ist den Japanern nun klar, dass die Atomkraft nicht sicher ist; im Gegensatz zu dem, was man ihnen jahrzehntelang eingeredet hatte. Auch verzeichnen die erneuerbaren Energien einen starken Aufschwung, zu dem es ohne Fukushima wohl nicht ohne weiteres gekommen wäre. Auch ist eine Bürgerbewegung gegen den Neustart von AKWs entstanden. Diesen Widerstandsgeist gegen die Obrigkeit gab es in Japan vor der Katastrophe von Fukushima nicht.
Das Interview führte Tina Herren.