Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Ukraine wegen der Inhaftierung von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko verurteilt. Die Untersuchungshaft der 52jährigen Oppositionspolitikerin im Jahr 2011 sei «willkürlich und rechtswidrig» gewesen. Zu diesem Entscheid gelangte eine kleine Kammer des Strassburger Gerichts einstimmig.
Zudem habe das Land vier Mal gegen die Grundrechte Timoschenkos verstossen. Unter anderem rügten sie Verletzungen der Menschenrechte auf Freiheit und auf gerichtliche Überprüfung von Freiheitsentziehungen. Timoschenkos Beschwerde wegen schlechter Behandlung in Haft wies das Gericht aber zurück.
Kiew will Urteil prüfen
Timoschenko hatte wegen der Haftbedingungen geklagt. Zudem wirft sie der Ukraine vor, das Strafverfahren gegen sie sei politisch motiviert. Sie ist gesundheitlich schwer angeschlagen.
Gegen das Urteil der kleinen Kammer können beide Seiten binnen drei Monaten Rechtsmittel einlegen. Der Gerichtshof kann den Fall dann zur Überprüfung an die 17 Richter der Grossen Kammer verweisen – er muss aber nicht.
Die Ukraine will den Urteilsspruch prüfen. «Wir müssen die Entscheidung zugestellt bekommen. Wir werden sie analysieren. Solange kann ich nichts kommentieren», sagte der ukrainische Vertreter beim EGMR, Nasar Kultschizki, der Agentur Interfax.
Urteil heisst nicht Haftentlassung
Das Urteil bedeutet nicht, dass Timoschenko automatisch aus der Haft freikommt. Die Umsetzung des Urteils ist Sache der Ukraine.
Timoschenko war im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft und umgerechnet 137 Millionen Euro Schadenersatz verurteilt worden. Der Politikerin wurde vorgeworfen, ein für die Ukraine nachteiliges Abkommen über Gaslieferungen aus Russland abgeschlossen zu haben.
Verteidiger fordern Freilassung
Timoschenkos Anwälte kritisierten, der Prozess sei politisch motiviert gewesen, um «die Hauptgegnerin des Präsidenten aus dem politischen Leben der Ukraine zu entfernen».
Timoschenkos Verteidiger forderte ihre sofortige Freilassung. Die Ukraine müsse die Entscheidung des EGMR umgehend umsetzen, verlangte Sergej Wlassenko. Die Politikerin müsse politisch und juristisch rehabilitiert werden.
In Strassburg forderte Timoschenkos Anwältin die Führung in Kiew zum Umdenken auf. «Natürlich sollte die ukrainische Regierung ernsthaft nachdenken, welche Schritte sie unternimmt, um den politischen Druck auf die Justiz zu stoppen sowie deren Ansehen aufzupolieren», sagte sie.
Freilassung unrealistisch
Eine Freilassung von Timoschenko ist laut SRF-Auslandsredaktorin Brigitte Zingg nicht realistisch. Erstens habe das Gericht Timoschenko in einem wichtigen Punkt nicht Recht gegeben: dass die Haft unmenschlich sei. Zweitens sei das Gericht auf den allerwichtigsten Punkt – die Haft sei politisch motiviert gewesen – gar nicht eingegangen.
Der Vorwurf der Justizwillkür hingegen dürfte der Ukraine schaden, sagt die Auslandredaktorin. Die Zusammenarbeit mit der EU könnte dies erschweren. Die EU habe zum Beispiel immer klar gemacht, dass sie ein Assoziationsabkommen mit der Ukraine nur unterzeichne, wenn Timoschenko freikomme. Auch die Oligarchen der Ukraine drängen auf eine Freilassung.