«Es ist das erste Mal überhaupt, dass ein türkischer Ministerpräsident an die Schmerzen der Armenier erinnert hat», sagt Thomas Seibert im Gespräch mit SRF4. Er ist Journalist in Istanbul. «Die Erklärung hat eine hohe Symbolkraft.» Ton und Inhalt seien neu und kämen einer offizielle Entschuldigung sehr nahe.
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte sich am Mittwoch im Streit über Massaker an Armeniern im Osmanischen Reich überraschend versöhnlich geäussert. Er sprach den Nachfahren der Opfer einen Tag vor dem offiziellen Gedenktag erstmals sein Beileid aus. Die Ereignisse von 1915 seien unmenschlich gewesen, hiess es in einer Erklärung, die in neun Sprachen – darunter Armenisch – veröffentlicht wurde. Allerdings bezeichnete Erdogan die Taten nicht als Völkermord.
Angriffsfläche für Kritiker schwindet
Seibert erklärt sich den Schritt Erdogans mit politischem Kalkül: Einerseits veröffentlichen die USA zum Jahrestag der Beginn der Massaker jeweils eine Grussbotschaft. Hier wolle die türkische Regierung vermeiden, dass der US-Präsident den Begriff «Völkermord» benutze. Nach der Erklärung von gestern Mittwoch habe Erdogan dieses Ziel wohl erreicht, so Seibert.
Zudem bereitet sich Ankara auf den 100. Jahrestag vom kommenden Jahr vor. Die Regierung Erdogans wolle den Anhängern des Völkermord-Vorwurfs möglichst wenig Angriffsfläche bieten und lege deshalb eine konziliante Haltung an den Tag, erklärt Seibert.
Türkeis Gesellschaft wird toleranter
In den vergangenen Jahren habe sich in der Türkei mit Blick auf die Völkermord-Frage viel getan, stellt der Journalist fest. Noch vor zehn Jahren kam es zu wütenden Protesten und Aggressionen türkischer Nationalisten.
Heute seien die meisten Türken zwar weiter der Meldung, dass es sich nicht um einen Völkermord handelte. Aber das Thema habe viel an Aggressivität verloren. «Innenpolitisch riskiert Erdogan also überhaupt nichts, mit dieser Erklärung.»
Zahlreiche Veranstaltungen in Istanbul
Heute Donnerstag finden in Istanbul mehrere Veranstaltungen, unter anderem auch auf dem zentralen Taksim-Platz. «Das ist bemerkenswert», sagt Seibert. Denn der Platz ist seit den Gezi-Unruhen im vergangenen Jahr eigentlich für politische Veranstaltungen gesperrt. Auch das sei eine Geste und zeige, dass die türkische Gesellschaft der Thematik heute viel offener begegne.
Dennoch: Die Türkei wehrt sich vehement dagegen, die Massaker als Völkermord zu anerkennen. Seibert erklärt das mit dem Gründungsmythos der «modernen» Türkei. Als die Massaker während des Ersten Weltkriegs verübt wurden, regierten die sogenannten «Jungtürken» das Osmanische Reich. Sie waren Vorläufer der späteren Nationalbewegung, die 1923 zur Gründung der Republik führte. Diese verstehe sich als «historisch saubere Nation», erklärt Seibert. «Der Völkermord-Vorwurf trifft diesen Mythos, weshalb sich die Türkei dagegen wehrt, auch wenn sie eigentlich nichts damit zu tun hat.»