Der 31-jährige Mouhcine Fikri war am Freitagabend in der Stadt Al-Hoceima in der nördlichen Berber-Region qualvoll umgekommen, als er versuchte, die Zerstörung seiner Ware zu verhindern und dafür in die Presse eines Müllwagens sprang. Laut dem Innenministerium ging es um eine grosse Menge illegal gefangenen Schwertfischs, die Fikri in einem Auto transportiert hatte.
Mittlerweile haben die Behörden elf Verdächtige festgenommen, darunter den Chef der Fischereibehörde und den leitenden Arzt des Veterinäramts. Es geht um die Fälschung amtlicher Dokumente und fahrlässige Tötung. Fragen zu den Umständen an den Journalisten und Maghreb-Experten Beat Stauffer.
SRF News: Was wissen Sie über die Umstände, die zum Tod dieses Fischhändlers geführt haben?
Beat Stauffer: Die Umstände sind bis jetzt nicht geklärt. Es gibt Augenzeugen, die gesehen und gehört haben wollen, wie ein Polizist dem Chauffeur des Müllwagens den Befehl gegeben hat, die Presse zu aktivieren. Damit habe er den Tod des Fischhändlers verursacht. Denkbar ist aber auch, dass es sich um ein Missverständnis handelt oder dass der Fischhändler sogar Selbstmord beging, indem er sich in den Müllwagen warf. Das wird aber erst die Untersuchung zeigen.
Steht der Vorfall exemplarisch für Umgang der Behörden mit der Bevölkerung?
Viele junge Marokkaner sehen das so. Sie fühlen sich verächtlich und ungerecht behandelt und leiden unter der Korruption. Sie identifizieren sich jetzt mit dem Bild eines jungen Mannes, der von einer Maschinerie zerquetscht wird. Es ist ein starkes Bild, das viel auslöst.
Sind diese Demonstrationen organisiert?
Nach meinen Informationen wurden die Demonstrationen in den Städten des Landes von Menschenrechtsgruppen und anderen Nichtregierungsorganisationen zwar organisiert. Es kamen dann unerwartet Tausende dazu. In diesem Sinn ist das überraschend.
Unter was für Umständen leben die Demonstrierenden?
Es gibt Millionen von Menschen, die unter absolut prekären Verhältnissen leben. Sie haben entweder keine Arbeit oder machen Taglöhner-Arbeit zu miserablen Bedingungen. Sie leben in sehr einfachen Wohnsiedlungen am Rand der grossen Städte, die gelegentlich in Slums münden. Sie haben keine soziale Absicherung und nur eine minimale medizinische Versorgung. Ihnen gegenüber steht eine prasserische Oberschicht. Dazu gehört auch der Palast. Es gibt also einen unglaublichen Kontrast zwischen dieser Luxuswelt und der Welt, in der gegen zehn Millionen Marokkaner leben müssen. Das ist eine soziale Zeitbombe.
Marokko ist eine konstitutionelle Monarchie. Der Arabische Frühling 2011 hat zu Reformen und einer Verfassungsänderung geführt. Was hat sich seither verändert?
Vor allem für die einfachen Menschen hat sich nichts verändert. Die Verfassung ist etwas sehr Abstraktes. Die Gesetze müssen zuerst noch erlassen werden. Das gibt es eine Blockade. Im Alltag der armutsgefährdeten Menschen ist von einer neuen Politik nichts zu spüren.
Wie reagieren die Behörden auf die Proteste? Lassen sie diese Menschen gewähren?
Die Behörden versuchen, die Volkswut zu dämpfen. Der König schickte den Innenminister mit einer Entschuldigung zur Familie des Verstorbenen und ordnete eine Untersuchung an. Ob das genügt, um diese aufgeheizte Stimmung zu dämpfen, ist fraglich. Ebenso, ob dereinst Verantwortliche für den Unglücksfall benennt und bestraft werden.
Der Tod dieses Fischhändlers weckt Erinnerungen an Tunesien, wo der Arabische Frühling durch einen Gemüsehändler ausgelöst wurde, der sich anzündete. Haben die aktuellen Proteste das Potenzial für Unruhen im ganzen Land?
Das ist sehr schwierig abzuschätzen. Die Erfahrungen der letzten fünfeinhalb Jahre bezüglich der arabischen Aufstände sind ausserordentlich ernüchternd. Aus dieser Sicht wird es die marokkanische Bevölkerung vermutlich nicht wagen, in der Hoffnung auf eine demokratische Änderung grossflächige Aufstände loszutreten. Denkbar ist aber, dass es zu unkoordinierten, spontanen und gewalttätigen Aufständen kommt, die sehr schwer zu kontrollieren sind.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.