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International Tschernobyl: So kam es zum Super-Gau

Was als Sicherheitsprüfung begann, endete in einer nuklearen Katastrophe: Am 26. April 1986 explodierte der Reaktorblock 4 des AKW Tschernobyl. Die Folgen für Mensch und Natur waren unvorstellbar – und sie sind es teilweise noch immer. Zudem geht von der Atom-Ruine weiterhin eine akute Gefahr aus.

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Als am 26. April 1986 das Unfassbare geschieht, ist der Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks in Tschernobyl seit ziemlich genau zwei Jahren in Betrieb. Die Belegschaft will in den frühen Morgenstunden beweisen, dass die Anlage auch bei einem Stromausfall problemlos weiterläuft und koppelt sie vom Sicherheitssystem ab – ein fataler Fehler. Die Leistung des Reaktors steigt plötzlich rapide an, eine versuchte Notabschaltung verkehrt sich aufgrund eines Konstruktionsfehlers ins Gegenteil.

Wegen der Hitze zerbersten die Brennstoffkanäle, es kommt zu mehreren Explosionen. Diese zerstören sowohl den Reaktorkern, wie auch die Reaktorkammer und das Reaktorgebäude. Heisser Brennstoff wird kilometerhoch in den Himmel geschleudert. Die Radioaktivität, die dabei freigesetzt wird, soll bis zu 400mal so hoch sein wie in Hiroshima. Bewohner des wenige Kilometer entfernten Pripjat erzählen später von himbeerfarbenem Licht, das den Nachthimmel erleuchtete. Die giftige Wolke wandert stetig Richtung Norden.

Nach dem Knall folgt das Schweigen

Zu diesem Zeitpunkt leben in Pripjat – einer Stadt, die 1970 eigens für die AKW-Mitarbeiter und ihre Familien erbaut wurde – etwa 50'000 Menschen, darunter 17'000 Kinder. Sie ahnen nichts von der Gefahr und werden erst nach 36 Stunden evakuiert.

Währenddessen brennt der Reaktor lichterloh. Einige Dutzend Helikopter werfen unter anderem Blei und Lehm ab, um das Feuer unter Kontrolle zu bringen – erfolglos. Die sowjetische Regierung verdonnert sogenannte «Liquidatoren» zu Aufräumarbeiten auf dem Gelände, manche von ihnen ohne Schutzanzüge. Die Strahlung ist dermassen hoch, dass die Männer meist nur ein bis zwei Stunden am Stück eingesetzt werden können, danach erbrechen sie sich oder kollabieren gar.

Die westlichen Staaten sind ahnungslos, bis zum 28. April: Denn zwei Tage nach dem Unfall erreicht die radioaktive Wolke Schweden sowie Dänemark und sorgt dort für stark erhöhte Werte. Gleichentags veröffentlicht die staatliche sowjetische Nachrichtenagentur TASS eine knappe Meldung zu «einem Unfall in Tschernobyl». Dabei seien zwei Menschen ums Leben gekommen. Eine Gefahr bestehe nur unmittelbar um das AKW herum, bereits in Kiew seien Luft und Wasser unbedenklich.

In der Schweiz tritt die Nationale Alarmzentrale erstmals in Aktion. Sie schätzt die Strahlungsgefahr jedoch als gering ein. Am 3. Mai empfehlen die hiesigen Behörden dann allerdings, kein Trinkwasser aus Zisternen zu trinken und Gemüse gründlich zu waschen. Schwangere und Kleinkinder sollen auf Frischmilch verzichten.

Die lange Liste der Opfer

18 Tage nach der Katastrophe richtet sich Michail Gorbatschow ans Volk und räumt eine mangelhafte Informationspolitik ein. In den kommenden Monaten werden immer mehr Liquidatoren nach Tschernobyl geschickt, die Zahlen variieren von mehreren 100'000 Männern bis zu insgesamt über einer Million. Von der Regierung als Helden gefeiert, bauen sie eine Sarkophag genannte Hülle aus Stahl und Beton, die den zerstörten Reaktor umschliesst und das Austreten weiteren radioaktiven Materials verhindern soll. Mitte November ist sie fertig. Damit sei «die Quelle der radioaktiven Gefahr für immer versiegelt», gelobt die sowjetische Führung. Mittlerweile sind die Reaktoren 1 bis 3 wieder in Betrieb.

Die Liquidatoren werden mit Tapferkeitsmedaillen und Urkunden geehrt. Doch ein Grossteil von ihnen bezahlt den Einsatz mit ihrem Leben. Unterlagen, welche konkreten Folgen die Strahlenbelastung bei den Helfern hatte, fehlen zwar weitgehend. Die ukrainische Armee geht aber davon aus, dass über 20'000 Liquidatoren gestorben sind, mehr als 90 Prozent sollen erkrankt sein.

Insgesamt wird beim Super-Gau eine Landfläche von 200'000 Quadratkilometern verseucht, 70 Prozent davon in der Ukraine, in Weissrussland und Russland: Rund sechs Millionen Menschen waren oder sind von der freigesetzten Strahlung gesundheitlich betroffen.

Erwachsene, Kinder und Jugendliche erkranken nun vermehrt an Schilddrüsenkrebs: Eine Folge des hoch aktiven Jods, das sich in vielen Schilddrüsen ablagert. Auch andere Krebserkrankungen wie Leukämie nehmen in den verstrahlten Regionen zu. Um die Welt gehen zudem die Bilder von missgebildeten Kindern, die kurz nach der Katastrophe geboren werden. Auch bei Tieren und Pflanzen werden diverse Missbildungen festgestellt.

Tschernobyl heute: Todeszone und Sarkophag

Am 15. Dezember 2000 wird der letzte verbliebene Tschernobyl-Reaktor stillgelegt. Pripjat ist, damals wie heute, unbewohnbar. Die radioaktive Strahlung übersteigt die Grenzwerte noch immer um ein Vielfaches, ausserdem verfallen die seit Jahrzehnten leerstehenden Häuser zusehends. Mittlerweile ist die Geisterstadt eine Attraktion für Katastrophen-Touristen, gelebt wird in der 30-Kilometer-Sperrzone hingegen kaum mehr. Obwohl: Ein paar hundert Unbeirrbare sind zurückgekehrt, aller Warnungen zum Trotz. Hinzu kommen die Arbeiter, die sich während ihren gutbezahlten Zwei-Wochen-Schichten dort niederlassen.

Zu tun gibt es für sie einiges. Denn der 1986 hastig aufgebaute Sarkophag ist brüchig und bietet nicht mehr genügend Schutz vor den 200 Tonnen Uran, die weiterhin in seinem Innern schlummern. An einer zweiten Schutzhülle wird derzeit gebaut. Bis Ende 2017 soll dieses 1,5 Milliarden Euro teure – von der EU und den USA mitfinanzierte – Bauwerk über den ersten Sarkophag geschoben werden. 100 Jahre soll es halten.

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