Fünf Tage nach dem Höhepunkt der protestantischen Marsch-Saison in Nordirland hat es in Belfast weitere Zusammenstösse mit der Polizei gegeben. Brandsätze flogen gegen die Sicherheitskräfte, mehrere Autos brannten. Einem französischen Pressefotografen wurde bei einem Angriff die Kamera entwendet. Die Polizei setzte im Osten der Stadt Wasserwerfer ein.
Zu Beginn der Unruhen am letzten Freitag waren 32 Polizisten und ein Politiker verletzt worden. Es war der Jahrestag des historischen Siegs der Protestanten über die Katholiken bei der Schlacht von Boyne am 12. Juli 1690. Die Krawalle fingen diesmal an, nachdem die Behörden einen Marsch des Oranierorden im Norden der Stadt verboten hatten. In den nächsten Tagen zieht die Polizei wegen der Unruhen offenbar Kräfte aus England, Schottland und Wales in Nordirland zusammen.
Experte: Jugendliche ohne Perspektive
Der Nordirland-Experte und Journalist Pit Wuhrer sieht in den jüngsten Ausschreitungen vor allem einen Ausdruck der Frustration und Perspektivlosigkeit jugendlicher Protestanten. Diese nutzten die traditionelle Marsch-Saison als willkommene Plattform und wohl auch als Abwechslung. Sie liessen sich dabei weder von Parteien noch anderen Organisationen oder Paramilitärs lenken. Dies zeige auch der Umstand, dass die Appelle zur Mässigung aus dem nordirischen Parlament überhaupt nicht fruchteten.
Die nach dem Karfreitagsabkommen vor 15 Jahren erhoffte «Friedensdividende» sei in den armen Quartieren mit traditionell hoher Arbeitslosigkeit auf beiden Seiten nie angekommen, stellt Wuhrer weiter fest. Dies gelte für Belfast wie auch weitere Städte Nordirlands mit Jugendarbeitlosigkeitsraten von 50 bis 70 Prozent. Der versprochene bescheidene Wohlstand sei nicht eingekehrt, auch wenn auf politischer Ebene – mit einer Regierung und einem Regionalparlament – eine gewisse Verständigung gelungen sei.
Wuhrer: Baldiges Ende in Sicht
Nach Einschätzung von Wuhrer sind die zurzeit an den Strassenschlachten beteiligten protestantischen Jugendlichen zutiefst verunsichert und glauben zum Teil wirklich, dass sie im zunehmenden Masse «umzingelt» sind. Entsprechend wehrten sie sich gegen alles, was den katholischen Republikanern mehr Einfluss verschaffen könnte.
«Sie befürchten, dass es doch einmal zu einem vereinten Irland kommen könnte, was völlig unrealistisch ist. Aber Wahrnehmung hat ja bekanntlich nicht immer mit Realität zu tun», sagt der Nordirland-Kenner. Er geht davon aus, dass die Ausschreitungen bald abebben.
Mehrmonatige Marsch-Saison
Bei der Schlacht am Boyne im Juli 1690 hatte Wilhelm von Oranien den katholischen König Jakob besiegt. Daran erinnern die Protestanten, um ihre Tradition wiederzubeleben und um ihre Gebiete zu markieren.
Die Marsch-Saison beginnt bereits im April und dauert bis in den Oktober hinein. In dieser Zeit gibt es rund 3000 Paraden, Umzüge und Demonstrationen. Und zwar von der protestantisch-unionistischen Seite wie auch von der irisch-katholischen Seite.