SRF News: Gestern sprachen in Griechenland viele Beobachter von der Stunde null. Wie sieht die Lage vor Ort heute Vormittag aus?
Philipp Zahn: In Athen ist die Lage ruhig. Viele Menschen bleiben zu Hause, selbst im Zentrum ist wenig los. Viele Geschäfte sind leer – das normale Geschäftsleben ist zum Erliegen gekommen. Es werden momentan fast nur Lebensmittel und Treibstoff gekauft.
Das könnte fatale Folgen haben.
Das ist so. Es ist der Todesstoss für die Wirtschaft. Momentan zahlt hier fast niemand seine Rechnungen. Alle warten ab. Das Online-Banking wird kaum mehr genutzt. In Griechenland geht nun die Angst um, dass auch die Importe einbrechen könnten. Nach Angaben des griechischen Aussenhandelsverbandes rechnet man nach der ersten Woche der Kapitalverkehrskontrollen mit einem Rückgang der Importe um 600 Millionen Euro. In den nächsten zwei Wochen befürchtet man, dass die Wareneinfuhr nach Griechenland um etwa 30 Prozent sinken wird. Viele wichtige Arzneimittel werden bereits jetzt von den Importeuren zurückgehalten.
Alle blicken gespannt auf das Referendum am Sonntag. Wie sehen die neuesten Umfragen aus?
Die Nein-Wähler werden weniger. Die Menschen spüren mittlerweile die Geldknappheit am eigenen Leib. Die langen Schlangen vor den Banken sind erniedrigend. Die Ladenbesitzer oder die Menschen im Tourismus haben Existenzängste. Viele Griechen glauben Tsipras nicht mehr, dass ein Nein ihre Verhandlungsposition in Brüssel stärken würde. Die Angst ist gross, dass das Land vollends verarmt. Das wird dazu führen, dass in den nächsten Tagen mehr Leute ins Ja-Lager wechseln und den Dialog mit Europa suchen wollen. Es kann sein, dass es am Wochenende zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen kommt und schliesslich die Mehrheit die europäische Sparpolitik befürwortet. Die Menschen sind hin und her gerissen. Einerseits sind sie arg enttäuscht von der EU, andererseits haben sie grosse Zukunftsängste.
Kann es sein, dass das Referendum noch in letzter Minute abgesagt wird?
Die Menschen in Athen wissen, dass sie am Sonntag über die Zukunft des Landes entscheiden. Ein Nein würde aller Voraussicht nach das Ende Griechenlands im Euro bedeuten. Dementsprechend versucht die griechische Opposition verzweifelt, das Referendum noch in letzter Minute zu Fall zu bringen. Heute wird beim Verwaltungsgericht eine Klage gegen das Referendum eingereicht. Der Hauptvorwurf: Die Abstimmung sei zu kurzfristig angesetzt worden. Morgen wird darüber entschieden.
Die Gegner von Tsipras bringen sich schon in Position.
Der ehemalige Premier Antonis Samaras hat gestern bereits eine Medienkonferenz zur politischen Zukunft des Landes abgehalten. Falls Tsipras das Handtuch wirft, soll eine Allparteien-Notregierung bereit stehen. Da es nicht sofort Neuwahlen geben könnte, wäre diese Allparteien-Regierung der Opposition in den kommenden Wochen der neue Ansprechpartner für die EU.
Gibt es heute wieder Grossdemonstrationen?
Heute Abend werden die Sparprogramm-Befürworter wieder eine Kundgebung auf dem Syntagmaplatz abhalten. Aber auch die Gegner machen mobil. Am Wochenende werden Sympathisanten aus ganz Europa in Athen erwartet – unter anderen der Italiener Beppe Grillo. Viele Linke wollen Griechenland in diesen schweren Stunden nicht alleine lassen und bilden eine Allianz gegen die Sparpolitik von Angela Merkel.
Das Interview führte Benedikt Widmer.