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Legende: Heidi Tagliavini Keystone

International «Vom ‹Ende der Geschichte› waren wir fern»

Vor 25 Jahren zerbrach die Sowjetunion: Der Kalte Krieg war vorbei. Vom «Ende der Geschichte» war die Rede. Heidi Tagliavini, ein Schwergewicht der internationalen Diplomatie, gestaltete damals die Schweizer Aussenpolitik neu. Im Gespräch mit SRF blickt sie zurück.

SRF News: Frau Tagliavini, wie haben Sie das historische Jahr 1991 persönlich erlebt?

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Heidi Tagliavini: Es war eine markante, höchst spannende Zeit, während der sich in ganz Osteuropa sehr viel ereignete. So etwas erlebt man nicht oft in einer diplomatischen Laufbahn. Ich war während dieser Zeit Kulturattaché auf der Schweizer Botschaft in Moskau.

Die Ereignisse haben sich ab Mitte 1991 überstürzt, als es im August in Moskau zum Putsch kam, der die Politik Gorbatschows rückgängig machen wollte, also revisionistisch war. Es war wie ein Dominoeffekt, der gegen Jahresende zum endgültigen Zerfall der Sowjetunion führte.

Hatte sich der Zerfall in den Jahren zuvor abgezeichnet?

Bereits als Gorbatschow Mitte der 1980er-Jahre an die Macht kam, spürte man, dass im Osten Europas etwas im Umbruch war, dass das grosse sowjetische Reich, dieses nahezu unbewegliche, monolithische Land, das grösste Land der Welt, an allen Ecken und Enden bröckelte. 1989 fiel in Berlin die Mauer, was niemand wirklich hatte kommen sehen, in Ungarn oder der Tschechoslowakei wurden Botschaften von Bürgern der DDR besetzt, in Litauen und Georgien gab es Unabhängigkeitskämpfe – der Druck wurde immer grösser.

Fühlten Sie sich bedroht?

In Moskau selber nicht. Aber bei meinen Reisen in die sowjetischen Teilrepubliken wurden die Spannungen immer deutlicher spürbar. Bei offiziellen Treffen war die Stimmung aggressiver, militanter und gegen Moskau gerichtet. Für Diplomaten war es in solchen Situationen schwierig, den richtigen Ton zu treffen und die Stimmung nicht noch mehr anzuheizen.

Welche Rolle spielte die Schweiz in dieser Zeit?

Ronald Reagan und Michail Gorbatschow
Legende: Genf, November 1985: Nach Jahren des Schweigens treffen sich Reagan und Gorbatschow auf Schweizer Boden. Keystone

Als einzelnes Land spielte die Schweiz damals keine besondere Rolle. Aber als Gastgeber für das historische Treffen zwischen Michail Gorbatschow und Ronald Reagan 1985 war unser Land durchaus wichtig. Es stellte mit Genf neutrales Territorium zur Verfügung, was für so ein Gipfeltreffen zwischen den beiden Kontrahenten des Kalten Krieges, USA und UdSSR, wohl entscheidend war.

Lange vorher hatte es nichts Vergleichbares gegeben. In der Sowjetunion herrschte damals Stagnation. Erst als Michael Gorbatschow – zuvor für den Westen weitgehend unbekannt – in Erscheinung trat, kamen die Dinge ins Rollen. Das Treffen in Genf wurde mit grosser Spannung erwartet, man setzte viel auf den neuen Hoffnungsträger aus dem Kreml, und tatsächlich leitete das Genfer Treffen eine Phase der Zusammenarbeit, vor allem auch in der Abrüstung ein.

Waren Sie dabei damals in Genf?

Der Untergang der UDSSR

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«10vor10» blickt eine Woche lang auf Russland und beleuchtet den Weg des Landes seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Vom 25. bis 29. Juli jeweils um 21.50 Uhr auf SRF 1. Bereits gesendete Reportagen finden Sie hier .

Ich erinnere mich gut an dieses Treffen. Ich habe Übersetzungsdienste geleistet für die verschiedenen Herren im Gespräch mit der Schweizer Regierung (Generalsekretär Gorbatschow und Aussenminister Schwewardnadze). Damals war Kurt Furgler unser Bundespräsident und der jüngst verstorbene Pierre Aubert war unser Aussenminister. Beide waren sich bewusst, wie wichtig dieses Treffen war.

Wie veränderte sich die Schweizer Aussenpolitik nach 1991?

Die Schweiz reagierte sehr schnell – im Gegensatz zu anderen Ländern, die sich mehr Zeit liessen. Als die Sowjetunion im Dezember 1991 endgültig zerfiel, haben wir in unserer Botschaft in Moskau dem Bundesrat empfohlen, möglichst rasch alle 15 Nachfolgestaaten anzuerkennen. Der Bundesrat tat dies bereits zwei Tage später, am 23. Dezember, also kurz vor Weihnachten 1991. So gehörten wir zu den ersten Ländern überhaupt, die die neuen, unabhängigen Staaten anerkannten.

Der Zerfall der Sowjetunion war wie ein Erdrutsch, für mich ist er das schwerwiegendste Ereignis des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die Situation danach war eine völlig neue: Plötzlich hat man es mit 15 neuen Ländern zu tun. Es stellen sich viele Fragen: Welches sind unsere Interessen? Welche Probleme haben wir mit diesen Ländern? Wo kann man die Beziehungen zum beiderseitigen Vorteil aufbauen? Was packen wir beim Aufbau der Beziehungen prioritär an? Auch stellte man sich bald einmal die Frage: in welchen neu unabhängigen Ländern eröffnen wir eine Botschaft?

15 neue Staaten auf einen Schlag – das klingt nach viel diplomatischer Arbeit.

Heidi Tagliavini

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  • 1950 in Basel geboren, studierte in Genf Romanistik und Russisch
  • 1989 - 1992: Kulturattaché in der Botschaft von Moskau
  • Seit 1995: u.a. für die OSZE in Tschetschenien, UNO-Sonderbeauftragte in Georgien, Leiterin der int. Untersuchungskommission des Georgien-Konflikts (Tagliavini-Bericht), Ukraine-Beauftragte der OSZE
  • Seit 2015 im Ruhestand

Ganz praktisch lief es so: Wir erhielten einen ganzen Stoss sogenannter Beglaubigungsschreiben und einen ebenso grossen Stapel mit Briefen, hochoffizielle Dokumente, die die diplomatischen Beziehungen in die Wege leiteten. Es ging also bei all diesen Ländern um eine Formalisierung der Beziehungen.

Wir sind sofort, bereits Anfang Januar 1992, in die neu unabhängigen Länder gereist, haben alle diese neuen Regierungen besucht. Wiederum eine Situation, die man als Diplomatin in der Menge nur selten erlebt.

Wie haben Sie diese neuen, noch jungen Regierungen erlebt?

Zuerst waren es im Wesentlichen dieselben Verwaltungsapparate wie während der Sowjetzeit. Diese Länder waren ja alle Unionsrepubliken gewesen, da hatte es immer Pro Forma Regierungen gegeben. In diesen Jahren war es allerdings vielerorts bereits zu Wahlen gekommen. Neue Präsidenten waren als Unabhängigkeitsträger gewählt und neue Verwaltungen aufgebaut worden.

Während der Zeit der Aufnahme unserer diplomatischen Beziehungen trafen wir viele neue Leute, die plötzlich ein unabhängiges Land führen mussten, aber kaum Ahnung hatten, wie. Beispielsweise erinnere ich mich an ein Treffen mit dem Kirgisischen Präsidenten. Er sprach mit grosser Hochachtung von der Schweizer Neutralität und davon, dass sein Land noch neutraler sein wolle.

Wie haben Sie reagiert?

Das «Ende der Geschichte»

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Legende: Reuters
  • «The End of History and the Last Man» (1992) von Francis Fukuyama (US-Politikwissenschaftler)
  • Fukuyamas These: Nach dem Zusammenbruch der UdSSR setzen sich Demokratie und Marktwirtschaft endgültig und überall durch.
  • Kritik: Liberale Demokratie sei kein stabiler Endzustand. Kommende geschichtliche Entwicklungen könnten unmöglich vorhergesagt werden.

Wir mussten ihn ehrlicherweise darüber aufklären, dass die Schweiz das Modell der bewaffneten Neutralität vertrete, dass es gefährlich sein könnte, sich schutzlos den Kräften von aussen auszusetzen. Er hatte die Illusion, man müsse sich nur als neutral erklären und wäre geschützt vor einem Krieg. Es war die Hoffnung, allen Gefahren zu entgehen und möglichst mit der Friedensfahne in ein neues Leben zu ziehen. Durchaus sympathisch.

In vielen dieser Länder wurden diese Präsidenten allerdings nach relativ kurzer Zeit abgesetzt. Und es blieb oft nicht bei einer Absetzung. Das waren politische Erschütterungen, die man erst verdauen musste. Sehr schnell wurden jeweils Sündenböcke gefunden.

Nach dem Zerfall war vom «Ende der Geschichte» die Rede. Die Zeit der grossen Konflikte schien vorbei. Haben Sie das auch so empfunden?

In den späten 1980er Jahren und vor dem Zerfall der Sowjetunion beobachteten wir mit grossem Erstaunen und zunehmender Überraschung, was passierte. Niemand hatte daran geglaubt, dass die Sowjetunion zerfallen würde, es hätte ja durchaus auch anders kommen können. Die Geschichte war in diesem Teil der Welt in Bewegung gekommen, und das ist selten.

Aber bedenken Sie: Es war auch die Zeit, während der beispielsweise die Spannungen auf dem Balkan zunahmen, die dann zu den Kriegen im früheren Jugoslawien führten – vom Ende der Geschichte waren wir also fern. Aber sicher haben diese Ereignisse die Welt in einer Art neu geordnet, die wir auch heute noch nicht in ihrem vollen Ausmass abschätzen können.

Das Gespräch führte Bettina Ramseier.

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