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International Vor 20 Jahren: 100 Tage Massenmord in Ruanda

Vor 20 Jahren verloren 800'000 Tutsi und moderate Hutu im Genozid von Ruanda ihr Leben. Noch nie zuvor in der Geschichte hatten Menschen in nur 100 Tagen derart viele Mitmenschen umgebracht. Die Welt sah zunächst tatenlos zu. Rückblick auf eines der dunkelsten Kapitel des 20. Jahrhunderts.

Die grausamen Zahlen

  • Die Hutu-Mehrheit im Land tötete im Frühling 1994 etwa 75 Prozent der Tutsi-Minderheit. 800'000 getötete Zivilisten in nur 100 Tagen – das sind fünf Morde pro Minute.
  • Rund 14 bis 17 Prozent der damals erwachsenen männlichen Hutu waren laut empirischen Studien an den Morden beteiligt.
  • Es war furchtbarste Völkermord seit der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg und den Killing Fields in Kambodscha in den 70er-Jahren.

Der Weg zum Genozid

  • Der Auslöser des Völkermordes war ein Attentat auf das Flugzeug von Hutu-Präsident Juvénal Habyariman am 6. April 1994.
  • Obwohl über die Drahtzieher noch heute gerätselt wird, diente das Attentat Hutu-Extremisten als Vorwand für den Genozid.
  • Noch in derselben Nacht zogen fanatische Hutu («Hutu-Power») blutrünstig durch die Hauptstadt Kigali. Ihr einziges und seit Monaten vorbereitetes Ziel: Die Ausrottung der Tutsi und moderaten Hutu.
  • Zu den ersten Opfern gehörte Premierministerin Agathe Uwilingiyimana. Binnen einer Woche erfasste der Mordbrand das ganze Land.

Die Mordinstrumente

  • Die Täter machten systematisch Jagd auf Tutsi – mit Einwohnerlisten und Strassenkontrollen. Die Opfer wurden kurzerhand mit Macheten, Messern, Speeren, Sicheln, Feldhauen oder Knüppeln hingerichtet.
  • Grössere Menschenmengen wurden zusammengetrieben und in Gebäuden lebendig verbrannt oder mit Hilfe von Handgranaten getötet.
  • Auch vor Ausländern wurde kein Halt gemacht: Zehn belgische Blauhelmsoldaten, die eigentlich für Ruhe im Land sorgen sollten, wurden gefangengenommen und anschliessend ebenfalls ermordet.
  • Eine wichtige Rolle beim Genozid spielte der nationale Rundfunksender Radio Milles Collines. Immer wieder hetzten die Journalisten im Frühling 1994 den entfesselten Mob auf. «Macht weiter! Die Gräber sind noch nicht voll!» Die Tutsi wurden Kakerlaken «Inyenzi» genannt.

Die Kriegsgründe

  • Der Genozid und der damit verbundene Bürgerkrieg war kein afrikanischer «Stammeskrieg», also kein Krieg der Ethnien. Hutu und Tutsi teilen Sprache und Kultur.
  • Laut Historikern töteten die Hutu aus Hass, Mordlust, Furcht und von der Gier nach den Besitztümern der Opfer getrieben.
  • Die Ursachen der Tragödie waren laut Historikern der Bevölkerungsdruck, der Verteilungskampf um knappe Ressourcen sowie der Machtwahn der herrschenden Elite.

Die Rolle der internationalen Gemeinschaft

  • In Ruanda war seit 1993 die UNAMIR stationiert. Erste Unruhen wurden falsch eingeschätzt.
  • Als die Gewalt plötzlich ausbrach, reagierte die internationale Gemeinschaft überrascht. Der Mord an den belgischen UNO-Mitarbeitern in Ruanda zu Beginn der Unruhen liess den Westen in Schockstarre verfallen.
  • Die UNO zog in Panik ihre Leute ab. Die Anzahl der Blauhelmsoldaten in Ruanda wurde von 2500 auf 270 reduziert – ein Freibrief für die Täter zur Fortsetzung des Völkermords. Erst im Mai 1994 wurde das Kontingent wieder aufgestockt.
  • Bei Ausbruch des Krieges wurden die Schweizer Entwicklungshilfe in Ruanda sofort suspendiert. Die vielen Schweizer vor Ort konnten im letzten Moment dank belgischer Hilfe aus dem Land geschafft werden.
  • Die Schweizer Entwicklungshilfe wurde kritisiert, weil sie mit ihren Projekten zur Infrastruktur beitrug, welche die Vorbereitung und Durchführung des Genozids vereinfachte.

Das Ende des Gemetzels

  • Die Rebellenarmee RPF konnte im Frühsommer 1994 den Völkermord an den Tutsi dank Eroberungen stoppen.
  • Am 4. Juli marschierten die Rebellen in Kigali ein – die Regierungstruppen flohen, gefolgt von zwei Millionen Hutu. Auch den Rebellen wurden Völkerrechtsverletzungen vorgeworfen.
  • Am 18. Juli erklärten die RPF den Bürgerkrieg für beendet. Einen Tag später wurde eine Regierung unter der Führung der Rebellen vereidigt.
  • Tutsi Paul Kagame, der militärische Führer der Rebellen, kam 1994 als Vizepräsident an die Macht; seit 2000 ist er Präsident.

Die grosse Flüchtlingskrise

  • Der Völkermord destabilisierte die gesamte Region der Grossen Afrikanischen Seen. Mehr als zwei Millionen Ruander flohen aus dem zerstörten Land.
  • Ende 1996 wurden die Flüchtlingslager aufgelöst. Ungefähr 500'000 Flüchtlinge kehrten nach Ruanda zurück.
  • Unmittelbar nach dem Völkermord lag der Frauenanteil in Ruanda durch die Ermordung, Flucht oder Verhaftung von Männern bei zirka 70 Prozent.

Das Erbe des Krieges

  • Wer heute in Ruanda über die Hutu-Tutsi-Frage zu laut nachdenkt, wird wegen Volksaufwiegelung zu schweren Strafen verurteilt.
  • Öffentlich darf in Ruanda nur von «Banyarwanda», von Ruandern, nicht mehr von Tutsi oder Hutu gesprochen werden.
  • Präsident Paul Kagame regiert Ruanda mit eiserner Hand. Seine autoritäre Regierung hat eine Politik der Versöhnung angeordnet.

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