Die gestrandeten Flüchtlinge in Calais versuchen alles, um in ihr Traumland Grossbritannien zu kommen. In den letzten zwei Nächten haben mehr als 3000 Flüchtlinge versucht, durch den Eurotunnel auf die Insel zu gelangen, wurden aber von Sicherheitskräften und der Polizei daran gehindert. Warum die Migranten unbedingt nach England möchten und nicht in Frankreich bleiben wollen, wissen Grossbritannien-Korrespondent Martin Alioth und Frankreich-Mitarbeiter Rudolf Balmer.
SRF News: Was ist so viel attraktiver in Grossbritannien als in Frankreich für die Migranten?
Martin Alioth: Zum Teil ist es ein verführerisches Gerücht unter den Flüchtlingen, zum Teil aber enthält es einen Kern Wahrheit: Die Briten haben keine effektive Meldepflicht, keine Einwohnerkontrollen. Das heisst, wer untertauchen kann, bleibt oft lange ungeschoren und findet illegale Arbeit im überhitzten Moloch London. Zudem finden sie wohl meistens Unterschlupf bei bereits ansässigen Kollegen aus der alten Heimat.
Wie ist denn die Lage in Frankreich?
Rudolf Balmer: In Frankreich ist es wahrscheinlich weniger einfach, Schwarzarbeit zu finden. Auch ist das Asylverfahren für Flüchtlinge kompliziert. Die Prozedur dauert sehr lange und in dieser Zeit haben diese Menschen nicht das Recht, zu arbeiten. Sie landen darum auf der Strasse. Das erklärt auch, warum diese Migranten nach Grossbritannien wollen. Der Flüchtlingsstrom aber staut sich dann in Calais an und der Ort wird zu einem Nadelöhr.
Migranten versuchen auf fahrende Lastwagen oder Autozüge aufzuspringen.
Wie gelangen die Menschen denn durch diesen Tunnel, von Calais nach Dover?
Da gibt es grundsätzlich zwei Wege. Die wenigen, die Geld haben, die bezahlen Schlepper. Offenbar kostet es derzeit ungefähr 1500 Euro, um einen Platz in einem Lastwagen als blinder Passagier zu bekommen. Die anderen, und das ist die grosse Mehrheit, gehen enorme Risiken ein. Sie versuchen in der Nacht auf einen fahrenden Lastwagen oder auf Autozüge unter dem Ärmelkanal aufzuspringen. Wie gefährlich das ist, belegt die tragische Zahl der Todesopfer: Seit Anfang Juni gab es zehn Tote.
Warum macht Grossbritannien die Arbeitslage für Migranten nicht unattraktiver, oder anders gefragt: profitiert die britische Wirtschaft möglicherweise von diesen billigen und willigen Arbeitskräften?
Martin Alioth: Gewiss. Zum Beispiel in der Landwirtschaft. Dort wird oftmals nicht einmal der Minimallohn bezahlt bei der Ernte und dergleichen. Aber, ich glaube es ist wichtig, festzuhalten, dass Flüchtlinge nur einen kleinen Teil der britischen Einwanderer darstellen. Der Grossteil kommt aus Mittel- und Osteuropa, dank der Europäischen Union durchaus legal. Die britische Wirtschaft hat also keine Probleme, ihre offenen Arbeitsplätze auch zu besetzen.
Die Franzosen und Briten wollen jetzt gemeinsam Flüchtlinge nach Afrika zurückschaffen.
Obwohl die Überwachung in Calais intensiv ist, schaffen es immer wieder Flüchtlinge, nach Grossbritannien zu gelangen. Hat eventuell Frankreich auch ein Interesse daran, dass den Migranten die Flucht über den Kanal auch wirklich gelingt?
Rudolf Balmer: Das würde so natürlich niemand zugeben. Aber unter vorgehaltener Hand hat mir ein Vize-Bürgermeister in Calais gesagt, selbstverständlich werde von Zeit zu Zeit ein Auge zugedrückt, man lasse ein paar hundert Migranten durch. Das sind die Anweisungen, die gegeben werden, wenn in Calais zu viele Leute sind. Wird die Lage unerträglich, dann soll der Druck im Ventil abgelassen werden.
Eine schwierige Situation also. Wie sieht denn jetzt der britische Lösungsansatz aus?
Martin Alioth: Es geht um Abwehr in Calais mit Zäunen, möglicherweise mit Soldaten. Man ist bereit, dafür auch Geld auszugeben. Neu ist, dass die Franzosen und die Briten jetzt gemeinsam Flüchtlinge nach Afrika zurückschaffen wollen. Dazu gibt es allerdings noch keine Einzelheiten. Grundsätzlich sind die Briten der Meinung, es handle sich um ein französisches Problem. Der Hauptinstinkt bleibt die handgreifliche Abwehr der Flüchtlingsströme.
Die Gespräche führte Ivana Pribakovic.