Wer vom Comer See nach Esino Lario fährt, auf den warten erst einmal Kurven, Kurven, Kurven. Und eine Strasse so eng, dass Unfälle eigentlich an der Tagesordnung sein müssten. Ein Wunder, dass hier überhaupt ein Bus hochfährt.
Im Ort angekommen sieht es dann auf den ersten Blick so aus, wie man sich ein italienisches Bergdorf eben vorstellt: idyllisch.
Im Schatten der Bäume am Dorfplatz plätschert ein Brunnen, ein verschwitzter Radrennfahrer füllt gerade sein Bidon.
Ein Bauarbeiter sonnt sich mit nackten Oberkörper auf einer Holzbank. Eine ältere Frau hängt auf dem Balkon ihres kleinen Hauses T-Shirts auf. Irgendwo zwitschert ein Vogel.
Jugendliche und Herren mit Jägershut
Bis wir beim zweiten Hinsehen bemerken, dass die T-Shirts alle die gleiche, stechend blaue Farbe haben. Und denselben Schriftzug: «Wikimania goes Outdoor. Esino Lario 2016».
Nach Veranstaltungen in Millionenstädten wie Hong-Kong, London oder Mexico City halte man die 12. Wikimania ganz bewusst in einer kleinen Gemeinde ab, erklären die Organisatoren. Die gut 750 Einwohner des Dorfes sollen während der Konferenz mit den über tausend Teilnehmenden aus aller Welt eine Einheit bilden, so die Hoffnung.
Tatsächlich scheint es kaum einen Bewohner, kaum eine Bewohnerin zu geben, der oder die nicht auf irgend eine Art eingebunden ist: Die Jugendlichen, die im Empfangsgebäude den Wikipedianern auf Italienisch, in radebrechendem Englisch oder per Handzeichen zu ihren Namensschildern verhelfen. Die Leute, die Unterkünfte und Betten zur Verfügung stellen. Die älteren Herren, die mit einer Art Jägershut auf dem Kopf als Aufpasser fungieren.
Sie blicken zwar leicht grimmig, scheinen den Aufmarsch der Auswärtigen aber zu geniessen. Genauso wie die gesprächige Seniorin, die wir vor der Dorfbar treffen und die auf unsere Nachfrage hin meint, auch sie freue sich sehr über die vielen Besucher.
Die treffen sich im Bergdorf zu sogenannten Hackathons, wo sie über mehrere Tage zusammen an neuen Computerprogrammen arbeiten. Oder sie besuchen eine der vielen Informations- und Lehrveranstaltungen, an denen es zum Beispiel darum geht, wie man mit einfachen Mitteln ein gutes Webvideo macht. Oder sie sitzen ganz einfach unter einem Baum im Schatten und reden über Gott und die Welt. Und natürlich über die Wikipedia
Wissen zu den Leuten bringen
Für Esino Lario soll am Ende mehr vom Spektakel übrig bleiben als ein paar hundert zusätzliche Übernachtungen und mehr Geld in den Kassen der Restaurantbesitzer. Die Infrastruktur der Konferenz bleibt, zumindest teilweise, auch nach der Wikimania erhalten.
So kann sich die Gemeinde in Zukunft über einen modernen Netzanschluss freuen. Und dank den vielen Workshops sollen im Dorf auch vertiefte Internetkenntnisse zurückbleiben.
So praktiziert die Wikipedia vor Ort, was sie im Internet schon seit mehr als 15 Jahren tut: Sie macht Wissen für alle zugänglich, die sich dafür interessieren. Gratis und franko. Oder genauer gesagt: Die vielen Wikipedianier tun das, die ihre Kenntnisse freiwillig und unentgeltlich zur Verfügung stellen.
Und die Wikimedia Foundation tut es, weil sie ebenso für die Wikipedia wie für die Wikimania die finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen stellt.
30 Seiten Kritik an der Wikipedia
Leider scheint über der Wikipedia nicht immer so eitel die Sonne wie dieser Tage in Esino Lario. Wikipedianer und Wikimedia Foundation zum Beispiel ziehen nicht immer am gleichen Strang. Und um die Diversität der Wikipedia-Gemeinde ist es nicht gut bestellt.
Der Frauenanteil reicht nach wie vor nicht über erbärmliche 15 Prozent hinaus. Menschen aus nichtwestlichen Ländern sind unter den Autoren ebenso untervertreten. Damit wird auch die Themenwelt dieser beiden Gruppen in den Wikipedia-Artikeln nur unzureichend abgebildet.
Allerdings: Viel Glück dem, der bei klassischen Enzyklopädien wie dem Brockhaus oder der Encyclopædia Britannica nach einer besser durchmischten Autorenschaft sucht. Und im Gegensatz zu den Referenzwerken vergangener Tage geht die Wikipedia immerhin offen und sehr ausführlich mit ihren Schwachstellen um. Beispiel: Wer den Wiki-Artikel « Kritik an Wikipedia » ausdrucken möchte, braucht dazu gut 30 A4-Seiten.