Gregor Sonderegger: Als ich 2001 nach Russland kam, kurz bevor Sie anfingen, bei NTV zu arbeiten, gab es dort kritische, professionelle Nachrichten und immer wieder ungeschminkte Berichte über die Situation in Russland, wie auch Diskussionssendungen, wo Meinungen aufeinanderprallten. Als ich 2005 Russland verliess, war davon kaum mehr etwas zu sehen: viele Sendungen waren abgesetzt, viele prominente Journalisten entlassen worden. Den kritischen Medien wurden weitgehend die Zähne gezogen. Was ist in den vergangenen Jahren geschehen?
Konstantin Goldenzweig: Es ist eine Menge passiert. Es war nicht so, dass die Pressefreiheit von heute auf morgen ausgeschaltet wurde sondern es war ein kontinuierlicher Prozess in den vergangenen Jahren, der dazu führte, dass es heute in den grossen russischen Medien fast kein einziges politisches oder gesellschaftliches Thema mehr gibt, das nicht durch direkte Zensur oder Anweisungen aus dem Kreml beeinflusst wird oder bei dem wir Journalisten Selbstzensur üben und uns zurückhalten.
Es gab viele Faktoren, die zu dieser strengen Kontrolle der Medien führten. Der zweite Krieg in Tschetschenien, die Präsidentschaftswahlen 2004, der Terror in Russland und die Demonstrationen der Opposition liessen bei den Machthabern wohl die Angst wachsen, freie Medien zuzulassen. Und heute haben wir bereits eine Generation von jungen Leuten, die nicht mehr weiss, wie es ist, freie Medien zu haben. Dass man sagen kann, was man denkt und frei ist, auch gegen die Regierung zu demonstrieren.
Die Blütezeit der Zensur und Kontrolle der Medien ist jetzt erreicht worden. Mit dem Konflikt in der Ukraine, der Besetzung der Krim und den westlichen Sanktionen.
Wie äussert sich der Druck konkret auf die Journalisten? Gibt es direkte Interventionen?
Am Anfang habe ich als Auslandkorrespondent diesen Druck noch nicht so stark gespürt. Deutschland und Russland waren offiziell Partner, hatten gute Beziehungen und so konnte ich relativ unabhängig berichten, was mir wichtig schien. Die Anweisungen aus der Zentrale kamen erst mit dem Ukraine-Konflikt, als die Rede von einem neuen Kalten Krieg war. Schritt für Schritt wurde der Druck grösser: Mal hiess es, ich solle dieses für Deutschland positive Thema nicht machen, mal gab es eine Anweisung einen Politiker zu interviewen, der sich gegen die Sanktionen äusserte oder Verständnis für Putin aufbrachte. Am Ende des Tages realisierte ich, dass es keinen Sinn mehr machte, dagegen anzukämpfen. Dass sich langsam bei mir eine Schere im Kopf breitmachte und ich anfing, Selbstzensur zu üben.
Unter Präsident Putin wurde ja auch von Regierungsvertretern der Begriff «Gelenkte Demokratie» für die Regierungsform von Putin benutzt. Ein russischer Kollege nannte das mir gegenüber mal eine absurde Verklärung seines zunehmend autoritären Regierungstils. Man sei ja auch nicht ein bisschen schwanger. Demokratie gebe es nur ganz oder gar nicht. Gibt es noch Demokratie in Russland?
Wenn man Worte wie Demokratie, Toleranz oder liberale Werte gebraucht, dann sind das für die meisten Russen schon fast Schimpfworte. Man assoziiert mit diesen Begriffen, die chaotischen Jelzin-Jahre, wo die Oligarchen in Russland das Sagen hatten, die Rubelkrise das Land erschütterte und es den Menschen schlechter ging als heute. So gibt es bei vielen gar kein grosses Bedürfnis nach mehr Demokratie – viele wünschen sich einen starken «Zaren» und wollen keine «chaotische Demokratie».
Es gibt im Russischen sogar eine negative Verballhornung der Worte Toleranz und Liberaler – Tolerast und Liberast - das tönt dann etwa so negativ wie Päderast. Es gibt zwar zum Glück immer noch freie und unabhängige Medien.
Aber wenn sie die Einschaltquoten der grossen Nachrichtensendungen betrachten, dann haben wir die absurde Situation, dass fast nur diese grossen Sendungen geschaut werden und dass die Zuschauer diese einseitige Berichterstattung begrüssen.
Ein sehr grosser Teil der Russen befürwortet es heute sogar, dass man heikle Themen vom Staat kontrollieren lassen muss – Zensur wird also gutgeheissen. Medien sind nicht eine Quelle für unabhängige Information, sondern eine Art Medizin, die man immer wieder zu sich nehmen will, um seine eigenen Meinungen zu stärken.
Ich habe viele hoffnungsfrohe junge Journalisten kennengelernt, etwa in der Region Baschkortostan (siehe Video-Bericht aus dem Jahr 2004), die sich in den ersten Jahren von Putins Herrschaft kritisch mit den Problemen ihrer Region auseinandersetzten, neue Medien ins Leben riefen und dann zum Teil brutal von den regionalen Machthabern abgewürgt wurden. Gibt es für junge kritische Journalisten noch Möglichkeiten in Russland?
Zum Glück schon. Dank des Internets und der Verbreitung von Fernsehen via Internet gibt es immer noch viele Medien, die unabhängig und kritisch berichten und dort eröffnen sich für junge Journalisten neue Möglichkeiten. In den Regionen aber war und ist es für junge Journalisten sehr schwierig bis unmöglich, freie und unabhängige Medien zu finden.
Was ging in Ihnen vor, wenn sie wider besseres Wissen etwas anders oder falsch darstellen mussten?
Als Deutschland-Korrespondent konnte ich dem zum Glück meistens ausweichen, aber wenn ich mal wider besseres Wissen berichtete, dann war das ein schmachvolles Gefühl. Und natürlich auch zu sehen, wie auf meinem Sender die Gewichte völlig verschoben wurden. Zehn Minuten wurde dem angeblichen Zerfall von Europa gewidmet und die anderen zehn Minuten, wie fantastisch alles in Russland läuft – da lief es mir schon manches Mal kalt den Rücken runter.
Aber auch hier galt: Die Nachrichten bei uns sind sehr professionell und auf hohem Niveau gemacht – das macht den Job für Journalisten interessant. Und wir realisieren erst nach und nach, wie wir uns immer stärker vom Journalisten zum Sprachrohr der Regierung wandeln. Eine Kollege sagte mal: Wir sind keine Presse mehr – wir sind die Presseabteilung.
Seit ihrem Weggang von NTV werden Sie von vielen Seiten angefeindet und als verlogen und opportunistisch bezeichnet, wie gehen sie damit um?
Ich habe zum Glück auch viele positive Rückmeldungen bekommen, von Leuten, die mich stützten. Irritiert hat mich, dass man mir vorwarf, ich hätte diesen Abgang bei NTV von langer Hand geplant, um bei westlichen Medien einen Job zu ergattern. Das war wirklich beleidigend, vor allem, weil es nicht wahr ist. Mir bleibt aber, dass ich jetzt als Journalist mit Leidenschaft wieder das tun kann, was ich schon immer wollte: frei von Zwängen meinen Beruf ausüben.