SRF News: Wie lange kann sich die Regierung angesichts der Proteste noch halten?
Paul Flückiger: Das ist schwierig abzusehen. Die Regierung ist sowieso schon schwach, sie hat nur 51 von hundert Abgeordneten im Parlament hinter sich. Und die Proteste erinnern doch ziemlich an die Situation in der Ukraine vor zwei Jahren. Da hat man gesehen, dass alles passieren kann.
Am Sonntag sind wieder 10‘000 Menschen in Chisinau auf die Strasse gegangen. Wie setzt sich die Protestbewegung zusammen?
Lange machten bei der Protestbewegung dezidiert pro-europäisch eingestellte Bürger mit. Doch seit einer Woche ist auch die pro-russische Opposition im Parlament auf den Plan getreten und hat ihre Anhänger mobilisiert – teils an diesen Protesten teilzunehmen oder mit eigenen Protesten auf die Strasse zu gehen.
Dann hat sich das Gesicht der Protestbewegung also grundlegend verändert?
Das würde ich nicht sagen. Es ist sicher eine schwierige Situation für die pro-europäische Bürgerplattform «Wahrheit und Würde», die einen pro-europäischen Weg einschlagen möchte. Allerdings sind die Pro-Russen im Moment noch eine Minderheit.
Auslöser der Proteste war der grösste Bankenskandal der moldawischen Geschichte. 1,3 Milliarden Euro sind spurlos verschwunden. Gibt es nun etwas Klarheit in dieser Angelegenheit?
Es wird auch für einen unabhängigen Wirtschaftsprüfer schwierig, Licht in dieses Geflecht aus Schattenkonten zu bringen.
Es wurde gerade verkündet, dass nun ein Vertrag mit dem amerikanischen Wirtschaftsprüfer Kroll ausgehandelt wird. Aber gleichzeitig fehlt der politische Wille, diesen Skandal aufzudecken, weil auch regierende Parteien verwickelt sind. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es für einen unabhängigen amerikanischen Wirtschaftsprüfer sehr schwierig wird, Licht in dieses Geflecht aus Schattenkonten zu bringen.
Die Proteste dauern an – trotzdem lenkt die Regierung nicht ein. Droht eine weitere Eskalation der Lage in Chisinau?
Es deutet einiges darauf hin, dass es eine Radikalisierung geben könnte und dass erste Gewaltakte verübt werden. Das könnten durchaus auch russisch inspirierte Gewaltakte sein. Sie würden der Regierung die Möglichkeit geben, ebenfalls gewalttätig einzuschreiten. Das könnte das ganze Fass zur Explosion bringen.
Allerdings hat der moldawische Premierminister dies nun wohl auch gesehen und ein Entgegenkommen signalisiert. Er hat die pro-europäische Protestbewegungen eingeladen, gemeinsam an einen Tisch zu sitzen und eine Roadmap auszuarbeiten, wie sich der Staat oder die Regierung reformieren sollen. Und er hat angeboten, falls diese Roadmap nicht eingehalten wird, dass dann selbst wichtige Politiker zurücktreten würden. Ich denke, es besteht eine grosse Gefahr, dass nach vorgezogenen Neuwahlen Moldawien wieder eine pro-russische Mehrheit hat.
Das Gespräch führte Barbara Peter.