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Internationale Konflikte «Frieden kann nicht von oben verordnet werden»

Im Syrien-Konflikt ist bereits der vierte UNO-Friedensvermittler am Werk. Auch bei den Friedensprozessen für Jemen, Libyen, Zypern oder die Westsahara bewegt sich wenig bis nichts. Für die Politologin Séverine Autesserre haben die traditionellen Ansätze zur Friedenssuche versagt.

Séverine Autesserre

Professorin für Politikwissenschaft

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Die Professorin für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten internationale Beziehungen und Afrikastudien arbeitet am Barnard College der Columbia Universität in New York. Séverine Autesserre beschäftigt sich mit Bürgerkriegen, Friedenskonsolidierung, Friedenssicherung und humanitärer Hilfe.

SRF News: Weshalb scheitern praktisch sämtliche grossen Friedenskonferenzen?

Séverine Autesserre: Weil praktisch immer nur die Eliten einbezogen werden: Regierungschefs, Minister, Rebellenführer oder Spitzendiplomaten. Wenn man sich aber im Kriegsgebiet bei den Leuten umhört, die zum Teil selber auf Gewalt setzen oder ausüben, stellt man fest, dass sie oft ganz andere Interessen haben als die Eliten.

Wo läuft es denn bei Verhandlungen besonders schlecht?

Die Liste ist sehr lang. Kollegen in Grossbritannien haben jüngst die zwanzig grössten Konflikte der vergangenen zwei Jahrzehnte analysiert. Sie haben festgestellt, dass der Standardansatz für die Friedenssuche in keinem einzigen Fall funktioniert hat. Zu viele Menschen fühlen sich in den Friedensprozessen nicht vertreten. Alle herkömmlichen Herangehensweisen mit schlagzeilenträchtigen internationalen Konferenzen brachte so gut wie nirgendwo Erfolge.

In Ihrem Buch «The Frontlines of Peace» machen Sie Vorschläge, wie man es besser machen könnte – wie denn?

Es gibt Personen, Organisationen und Gemeinschaften, die Wege gefunden haben, es besser zu machen. Und das funktioniert erstaunlicherweise selbst in Zonen extremer Gewalt. So gibt es etwa in Kongo, dem blutigsten Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg, ein Gebiet, das als «Oase des Friedens» gelten kann. Es gibt Dörfer im Nahen Osten, in denen Israeli und Palästinenser einträchtig miteinander leben. Solche kleinen positiven Beispiele gibt es von Afghanistan über Somalia bis Kolumbien.

Frieden kann nicht von oben verordnet werden, er muss von unten wachsen.
Autor:

Was wird denn dort anders gemacht?

Das Wichtigste: Es werden auch Herr X und Frau Y miteinbezogen, ganz normale, oft auch ungebildete Bürger. Und nicht nur sie als Personen, nicht nur ihre Interessen und Nöte, vielmehr auch ihre Erfahrungen während eines Konfliktes. Man kann die Probleme nicht für die betroffenen Leute lösen, sondern nur mit ihnen. Denn grössten Teil des Wegs zur Friedensfindung müssen sie selber gehen.

Heisst das, dass die grossen Friedenskonferenzen zu ehrgeizig sind und zu viel auf einmal wollen?

Ja. Man will Frieden für ganz Libyen, für ganz Syrien. Und am liebsten sehr rasch, innerhalb weniger Jahre. Und dann nicht bloss Frieden, sondern gleich noch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Frauenrechte, gute Regierungsführung usw. Das ist zu viel. Ein Beispiel: Wenn man kurz nach einem Konflikt schon Wahlen durchführt, dann hat das eine spaltende Wirkung und verschärft sogar die Gegensätze und löst neue Gewalt aus.

Wer nicht an eine Sache glaubt, soll zumindest jene nicht stören, die daran glauben und etwas dafür tun wollen.
Autor:

Also, mit weniger grossen Ambitionen an die Friedenssuche gehen?

Richtig. Frieden entsteht nicht als grosser Wurf. Er muss Stadtteil für Stadtteil, Dorf für Dorf erarbeitet werden, in ganz kleinen, mühsamen Schritten. Und es gibt auch kein Patentrezept, das überall gilt. Es braucht oft selbst für kleinste Einheiten Sonderlösungen.

Gibt es eine Art Handwerkskasten, wie Frieden erreicht werden kann?

Es gibt ein paar Prinzipien. Das Wichtigste: Frieden kann nicht von oben verordnet werden, er muss von unten wachsen. Wenn die Menschen in Konfliktgebieten die Lösungen nicht mittragen, dann funktionieren sie nicht. Und man darf nicht zu viel aufs Mal wollen, sondern muss bescheiden bleiben bei der Friedenssuche.

Ihr neustes Buch wurde breit diskutiert in Fachkreisen und in auflagenstarken Medien. Glauben Sie, dass sich Ihre Vorstellungen allmählich durchsetzen?

Es gibt ein französisches Sprichwort, das sagt: Wer nicht an eine Sache glaubt, soll zumindest jene nicht stören, die daran glauben und etwas dafür tun wollen. Klar, viele sagen jetzt, das ist revolutionär und illusorisch oder, das tönt nur in der Theorie gut. Aber es gibt ja bereits Beispiele, die zeigen, dass es anders geht.

Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.

Echo der Zeit, 11.10.2021, 18:00 Uhr ; 

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