Am Flughafen von Teheran ist alles wie gewohnt. Das Journalistenvisum wird nicht genauer kontrolliert als ein paar Monate zuvor. Und auch in der Stadt selber sind keine Spuren zu sehen – für Journalistenaugen. Keine Spuren der jüngsten Proteste, die Ende Dezember in vielen Städten des Landes ausbrachen und weltweit Schlagzeilen machten. Es ist alles aufgeräumt.
Auch im Hotel geht alles seinen Gang. Im Panorama-Restaurant sitzen Geschäftsleute aus Europa und Asien beim Frühstück. Sie trinken Kaffee und denken an ihre Geschäfte. Ein Blick durchs Fenster und sie sähen direkt aufs Evin-Gefängnis, das in unmittelbarer Nähe vom Hotel liegt. Verhaftete Demonstranten sitzen dort ein. Business as usual? Nur an der Oberfläche.
In den Köpfen der Iranerinnen und Iraner sind die Unruhen weiter präsent. Der junge Soziologe Matin zum Beispiel versucht, sich ein genaues Bild zu machen, von dem, was geschehen ist. Ganz Wissenschafter bleibt er vorsichtig in seinen Aussagen, denn die genauen Daten fehlen ihm noch. Aber was viele vermuteten in den Tagen des Protests, zeichnet sich auch für den Soziologen ab: die Mehrheit der Demonstranten war jung, zwischen 15 und 25 Jahren, arm und/oder arbeitslos.
Es sind Menschen, die nur noch schwer überleben können, in einem Land, in dem drei Millionen hungern und 25 bis 30 Millionen unter der Armutsgrenze leben – ein Drittel der Bevölkerung. Es sind die Enttäuschten und Verzweifelten weit draussen im Land, in Städten und Dörfern, von denen man in Teheran kaum jemals gehört hatte.
Wo sind die Jobs? Wo sind die politischen Reformen?
Enttäuscht von allem. Auch von Präsident Hassan Rohani. Wo ist es, das erhoffte bessere Leben? Wo ist die Arbeit? Wo ist die Freiheit? «Das Atomabkommen mit dem Westen ist der Anfang, danach gehen die Türen auf, vor denen die Investoren Schlange stehen, Jobs werden geschaffen! Und damit beginnt auch der politische und gesellschaftliche Wandel.» Dieses Versprechen Rohanis hängt noch immer in der Luft, unerfüllt.
«Er will nicht, er könnte schon!» sagt Hossein Dehbashi, Historiker und Filmemacher in Teheran. Seine Enttäuschung ist tief, sehr tief. Vielleicht weil sein Vertrauen in Rohani einmal so gross war. 2013, vor der ersten Wahl, schrieb er Reden für den moderaten Kleriker, prägte seine Imagekampagne. Er erlebte einen Politiker, der – so sagt er – ehrlich bestrebt gewesen sei, im Iran den Wandel herbeizuführen. Zwar ein Mann des Systems, aber einer, dem die Menschenrechte etwas bedeuten und der gegen die soziale Ungerechtigkeit kämpfen wollte.
Mit dem Atomabkommen mit dem Westen hat Rohani aus Sicht Dehbashis etwas Unglaubliches geschafft. Denn der Widerstand der Hardliner war enorm. Umso unverständlicher sein Zögern danach. Warum schreckt er jetzt zurück vor politischen Reformen?, fragt sich der Teheraner Historiker und Dokumentarfilmer.
Hassan Rohani werden grosse Ambitionen nachgesagt. Manche gehen davon aus, er strebe die Nachfolge von Revolutionsführer Ali Khamenei an. Was Erzkonservative und Revolutionsgarden nicht gern sehen. Die, die Rohani kennen, sagen, der Präsident nähere sich deswegen vorübergehend den Hardlinern an und habe aus diesem Grund auch Konservative in seine Regierung geholt. Reine Taktik.
Sein langfristiges Ziel sei, einmal im höchsten Amt, den politischen Wandel Irans einzuleiten. Andere winken ab. Eine viel zu steile These. Und vor allem eine falsche Strategie, denn es sei unmöglich, die iranische Bevölkerung weitere Jahre zu vertrösten. Die Zeit dränge, die Geduld sei aufgebraucht.
Iran verliert sein grosses Potential: die Jugend
Vor allem die Jugend hat genug vom Warten, genug vom Hoffen. Sie will eine Zukunft, sie will Arbeit, sie will Freiheit. Jedes Jahr verlassen eineinhalb Millionen Studentinnen und Studenten die iranischen Universitäten. Aber wo sind die Stellen, wo sind die Jobs? Sicher, die ausländischen Investoren haben grosses Interesse am iranischen Markt. Aber sie müssen enorme Hürden überwinden.
Europäische Banken fürchten Strafen der USA, wenn sie mit dem Iran Geschäfte machen und die iranische Bürokratie macht es den westlichen Unternehmern nicht einfach. Die Regierung von Präsident Rohani hat wenig Spielraum, um die Wirtschaft zu reformieren. Denn der Widerstand der Hardliner, Konservativen und Revolutionsgarden ist gross, diese wollen ihre Pfründe und ihren Einfluss nicht verlieren.
Matin, der Soziologe, sagt: «So kann es nicht weitergehen. Alles ist blockiert.» Kommt dazu, dass der Iran sein grosses Potential der Zukunft verliert: die Jugend. Das Land leidet unter einem enormen «brain drain», der Abwanderung von gutausgebildeten, hochqualifizierten Fachkräften, Wissenschaftern, Akademikern. Fast zwei Drittel der Bevölkerung sind unter dreissig Jahre alt.
Viele von ihnen haben im letzten Mai bei den Präsidentschaftswahlen nochmals für Hassan Rohani gestimmt. Doch jetzt macht sich Enttäuschung breit. Der erhoffte wirtschaftliche Boom bleibt aus – und ebenso die politischen Reformen.
Zerrissen zwischen zwei Leben
«Wir lieben unser Land, unsere Familie, unsere Freunde – und doch müssen wir das alles verlassen.» Diesen Satz hört man fast in jedem Gespräch mit jungen Iranerinnen und Iranern. Zum Beispiel in Maschhad, wo der Protest im Dezember begonnen hat. Dort ist die Schere zwischen Armen und Superreichen besonders gross. In die religiöse Stiftung der wichtigsten Pilgerstätte des Iran, des Imam-Reza-Schreins, fliesst das Geld in Strömen. Unversteuert. Sie ist ein politischer Machtfaktor und ein Wirtschaftsimperium.
Wir lieben unser Land, unsere Familie, unsere Freunde – und doch müssen wir das alles verlassen.
An der Spitze steht der erzkonservative Ebrahim Raisi, von Revolutionsführer Ali Khamenei persönlich ernannt. «Unter den Erzkonservativen wird unser Leben absurd», sagt die 35-jährige Elham. «Nicht einmal Konzerte erlauben sie. Im Versteckten machen wir trotzdem Musik und Partys. Im schlimmsten Fall könnten wir deswegen im Gefängnis landen.»
Elham und ihre Freunde wiederholen immer wieder, was sie so sehr belastet: dieses Doppelleben, das sie führen müssen. Privat leben sie offen und frei, in der Öffentlichkeit unter den Regeln und Restriktionen des Gottesstaates. «Du muss vorgeben, jemand zu sein, der du nicht bist. Irgendeinmal weisst du selber nicht mehr, was du denkst und fühlst und was wahr ist.»
Der Soziologe Matin nimmt dies auf: unter dieser Zerrissenheit würden immer mehr Menschen im Iran leiden, sagt er. Sie wünschten sich, dass ihr persönliches und privates Leben mit dem offiziell verordneten übereinstimmt. Das Leben als Einheit erfahren und nicht als Lüge. Das aber bedingt mehr Freiheit.
Die Reformer scheinen geschwächt
Die Moderaten und Reformer haben höhere Erwartungen geweckt, als sie bisher erfüllen konnten. Auch ihre Reaktion auf die jüngsten Proteste finden viele zu lau und zu vage. Und so scheint das Lager der Reformer geschwächt. Ende Januar hat das Parlament Rohanis Budget zurückgewiesen.
Den Konservativen passt nicht, dass er Subventionen kürzen und die Privatisierungen vorantreiben will. Präsident Rohani fehlt das Geld an allen Ecken und Enden, sein Spielraum wird mehr und mehr eingeschränkt und seine Wähler sind ernüchtert.
Keiner weiss, was wird. Aber viele fürchten, der eigentliche Aufstand der Armen stehe dem Iran und seinem Regime noch bevor. Der Protest von Ende Jahr sei nur eine erste Welle gewesen.