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IS-Geisel: «Wenn ich zurückdenke, gibt es nichts Gutes»
Aus Echo der Zeit vom 01.02.2018. Bild: SRF
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«Islamischer Staat» in Marawi «Ich möchte zusehen, wie er langsam qualvoll stirbt»

Er riskierte sein Leben, um den Fängen der Terroristen zu entkommen. Nun ertränkt er seine Wut in Alkohol – und wünscht seinem Peiniger den Tod.

Alkohol ist heute der beste Freund von Delfin Lapas. Der kräftige Mann sitzt mit eingesunkenen Schultern in seinem einfachen Holzhaus. Er trinke, um zu vergessen, sagt der 24-Jährige: «Das ist alles, was ich will: vergessen. Es geht mir zwar wieder besser und ich habe Arbeit gefunden in einem Schlachthaus, aber in mir ist diese Wut.»

Die Wut auf seine Kidnapper, die ihn drei Monate lang in der umkämpften südphilippinischen Stadt Marawi gefangen gehalten hatten. Gemeinsam mit 40 anderen Bauarbeitern hatte er dort im Mai gearbeitet. Dann nahmen die Kämpfer des IS und einer lokalen Terrorgruppe über Nacht die Stadt ein.

Heute wünsche ich mir nichts Sehnlicheres, als meinen Bewacher zu fassen, auf ihn einzustechen, ihm die Kehle aufzuschlitzen und zu sehen wie er langsam verreckt.
Autor: Delfin Lapas Geisel des «Islamischen Staates»

Für Delfin und die anderen Bauarbeiter war es zu spät, um zu fliehen. Neun Tage lang versteckten sie sich in einem Haus, dann nahm sie der IS als Geiseln. Dass die Terroristen ihm dabei sein neues Smartphone, seinen ganzen Stolz, wegnahmen, ärgert Delfin noch heute. An die Zeit in Geiselhaft erinnert er sich mit Grauen.

Soldat vor einer Gebäudefasse in Marawi
Legende: Im vergangenen Mai besetzten Kämpfer des IS, und einer lokalen Terrorgruppe die südphilippinische Stadt Marawi. Karin Wenger

Gräber schaufeln für den IS

«Unsere Arbeit war es», erzählt Delfin, «die Fahrzeuge der Terroristen schwarz zu streichen und eine IS-Flagge anzubringen. Später brachten sie uns in eine Moschee, in der Nähe des Sees. Dort wurden bereits mehr als 100 Zivilisten als Geiseln gehalten.» Seine Aufgabe sei es gewesen, Gräber für die gefallenen Kämpfer auszuheben: «Wenn sie am Morgen erschossen wurden, mussten wir sie bis am Abend beerdigt haben. Jeden Tag schaufelte ich die Gräber, bewacht von schwerbewaffneten Kämpfern. Jeden Tag fürchtete ich, dass sie mich ebenfalls erschiessen und begraben würden.»

Verkehrssdchild vor zerbombten Ruinen
Legende: Nach dem Kampf gegen die IS-Terroristen ist aus Marawi eine Trümmerlandschaft geworden. SRF/Karin Wenger

Einige der IS-Terroristen, unter denen sich auch Indonesier und Araber befanden, hätten versucht, die Geiseln zu Verbündeten zu machen. Sie versprachen ihnen, dass sie in den Himmel kämen, wenn sie einen Regierungssoldaten erschiessen würden. Sie zwangen die Christen sich zum Islam zu bekehren.

Rachegedanken gegen Bewacher

Einer seiner Bewacher sei besonders grausam gewesen, erinnert sich Delfin: «Er hiess Rapsan. Er war ein Autodieb, der befreit worden war, als die Terroristen zu Beginn der Belagerung das Gefängnis gestürmt hatten. Er schlug mich immer wieder auf den Kopf, zielte mit dem Gewehr auf mich und befahl mir, zu rennen, dann würde er mich erschiessen.»

Sein Bewacher habe ihn gefragt, ob er ihn heute oder morgen töten solle: «Heute wünsche ich mir nichts Sehnlicheres, als ihn zu fassen, auf ihn einzustechen, ihm die Kehle aufzuschlitzen und zu sehen wie er langsam verreckt.»

Erst blanke Panik, dann unbändige Wut

Wut ist neben dem Alkohol heute Delfins ständiger Begleiter. Während der Gefangenschaft war es panische Angst. Nicht nur vor seinen Bewachern, sondern auch vor den Bomben, die die philippinische Luftwaffe auf die Stadt abwarf und sie dadurch Stück für Stück zerbombte.

Er habe nicht mehr gegessen, nicht mehr geschlafen, da sei nur noch ein Gedanke gewesen: «Flucht. Daran dachte ich Tag und Nacht. Und an meine kleine Tochter. Würde sie ohne Vater aufwachsen?» Seine dreijährige Tochter – das erfuhr Delfin erst später – suchte in jenen Monaten den Himmel nach Helikoptern ab und wenn sie einen sah, sagte sie: Hier kommt mein Papa.

Ruinen, davor patroullieren Soldaten
Legende: Ende Oktober wurde die Stadt für befreit erklärt. Doch die Vertriebenen werden noch Monate, wohl Jahre nicht in den zerstörten Stadtkern zurückkehren können. Karin Wenger/SRF

Dramatische Flucht

Seine Frau suchte in den Leichenhäusern nach ihrem Mann und seine Eltern trafen sich mit anderen zum Gebet, um für seine Seele zu beten. Alle glaubten, er sei längst tot. Doch dann kam jene Nacht, als er die Flucht wagte. Zwei andere Geiseln hatten zwei IS-Wachen erdrosselt, zu viert entschlossen sie sich über den See zu entkommen. Doch Delfin kann nicht schwimmen.

Das Einzige, was ich nun will, ist vergessen.
Autor: Delfin Lapas Geisel des «Islamischen Staates»

Es war kalt und nieselte, erinnert er sich an den Schrecken von damals: «Ich fand leere Kanister, an denen ich mich festhielt und versuchte so über den See zu kommen. Der Gestank von verfaulenden Leichen war unerträglich und die Kälte.» Delfin hatte den IS überlebt, aber nun glaubte er im See zu ertrinken.

Doch dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, sah er den hellen Scheinwerfer auf der anderen Seite und nahm alle seine Kräfte zusammen: «Nicht schiessen, ich bin ein Zivilist!», rief er den Soldaten zu. «Als ich endlich das Ufer erreichte, filzten sie mich, dann begann das Verhör. Sie sagten: Vielleicht gehörst du dem IS an. Wieder dachte ich: Ich bin den Terroristen entkommen, aber nun werden mich die Soldaten töten.»

Sich selbst überlassen

Eine Woche lang wurde Delfin verhört, dann den Medien vorgeführt und schliesslich entlassen. Psychologische Betreuung oder anderweitige Hilfe bekam er keine. Doch die will er sowieso nicht. Dann würden die Leute noch denken, er sei verrückt: «Wenn ich zurückdenke, dann gibt es nichts Gutes, an das ich mich erinnern könnte. Das Einzige, was ich nun will, ist zu Vergessen.»

Nur manchmal fragt er sich, was mit den anderen Geiseln passiert ist, den Arbeitern, die mit ihm gefangenen genommen wurden. Von sieben weiss er, dass sie bisher nicht gefunden wurden. Von den anderen weiss er gar nichts.

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