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Jahresbilanz Ampelregierung Die Ménage-à-trois ist nicht prickelnd, aber produktiv

Das grosse Versprechen einer Fortschrittskoalition bediente die Sehnsucht nach einem schwungvollen Neuanfang in Berlin. Dass es nicht eingehalten werden konnte, ist nicht das Verschulden der experimentellen Dreierkoalition aus SPD, Grünen und FDP.

Der russische Angriff auf die Ukraine und auf die Energieversorgung des Westens war eine Zäsur und ein echter Schock. Statt die ehrgeizige ökologische Transformation der Wirtschaft anzupacken, musste die Regierung Probleme unklaren Ausmasses lösen und dabei immer den schlimmsten Fall einberechnen. Die Ziele haben sich also fundamental verändert.

Wie jener Lokomotivführer im Trickfilm, der bei voller Fahrt sich selbst die Schienen vor die Räder legt, hat die Ampel im Eiltempo Gas-Infrastruktur gebaut, sich um neue Energiequellen gekümmert und viel Geld für das Abfedern sozialer Probleme organisiert.

Gleichgewicht der Zumutungen

Dafür mussten alle drei Seiten ihre Ideen verraten: Die SPD rüstet auf, Grüne fahren Kohlekraftwerke hoch, die FDP muss Milliarden von Schulden trickreich umdeuten, um die Schuldenbremse einzuhalten. Dabei sind Fehler passiert, aber die Parteien haben oft pragmatisch gehandelt.

Mit dem Resultat, dass die Gasspeicher rechtzeitig gefüllt, Alternativen zum russischen Gas ermöglicht und grosse Entlastungspakete für Bevölkerung und Unternehmen bereitgestellt sind. Dazu kommen mit dem Mindestlohn von 12 Euro und dem neuen Bürgergeld zentrale Wahlversprechen, die in Zeiten steigender Preise ihrerseits wertvoll sind.

Zwischen Debattenkultur und Streit

Dass die Ampelkoalition dennoch unbeliebt ist, hat viel mit ihrem Auftreten zu tun. Eine Menge musste laufend neu verhandelt werden und das geschah oft genug in der Öffentlichkeit. Die Grünen profitieren, aber die Wählerinnen und Wähler der FDP sind besonders unzufrieden – die kleinste Partei ist umso mehr bemüht, ihre Ideen laut zu lancieren und zu verteidigen. Dabei kann es auch bereichern, wenn Debatten nicht nur hinter verschlossener Tür stattfinden. Nur ins Streiten sollte es nicht kippen.

Mit weniger Reibungsverlust ins zweite Jahr

Die Wertvorstellungen der Koalitionäre liegen weit auseinander. Kompromisse zu finden, kostet viel Kraft. Wenn die Koalition ihre grosse Erzählung der Transformation umsetzen will, dann muss sie möglichst rasch ihre Energie in diese Projekte stecken. Regieren wird so oder so schwierig bleiben in Zeiten drohenden Wohlstandsverlustes und Verzichts.

Simone Fatzer

Deutschland-Korrespondentin

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Simone Fatzer arbeitet seit 1998 für Radio SRF, unter anderem als Moderatorin der Sendung «Echo der Zeit» und als Dossierverantwortliche für Deutschland. Seit September 2021 ist sie Korrespondentin in Berlin.

Tagesgespräch, 06.12.2022, 13:00 Uhr

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